Training ohne Schläger: Die Kunst der Visualisierung

Roger Federer war ein absoluter Meister der Visualisierung. Aber was ist Visualisierung eigentlich genau und warum und wie kann man diese Fähigkeit auch perfekt für unseren Lieblingssport nutzen? Das erklärt euch Tennis-Insider Marco Kühn in seinem neuen Artikel.

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 05.05.2024, 15:39 Uhr

© Getty Images
Roger Federer war (und ist es wohl noch) ein absoluter Meister der Visualisierung

Die Chöre waren nicht zu überhören. Das gesamte Publikum stand. Er wusste genau, all diese Leute waren nicht unbedingt gegen ihn. Sie waren für seinen Gegner. Wann immer Novak Djokovic im Wimbledon-Finale gegen Roger Federer ran musste, fightete der Serbe gegen sich, gegen Roger und gegen das Publikum.

In einer Pressekonferenz wurde er gefragt, wie er das auf dem Platz erleben würde. Ein ganzes stehendes Stadion, das den Namen seines Gegners brüllt. Stundenlang. Der Djoker antwortete trocken: “Ich stelle mir einfach vor, sie würden ‘Novak Novak!’ rufen!”.

Das ist die Kunst der Visualisierung in Perfektion. Simpel, effektiv, erfolgreich. Novak Djokovic hat ein paar Turniere in seiner Karriere gewinnen können. Es ist Zeit, sich diese Visualisierung genauer anzuschauen.

Was bedeutet das Wörtchen Visualisierung überhaupt?

Visualisierung sind die Bilder, die dein Geist entwirft. Wenn du an deinen letzten Mallorca-Urlaub zurückdenkst und nochmal vom Hotel zum Strand gehst, dann visualisierst du. Wenn du Angst vor deinem nächsten Arztbesuch hast und in Gedanken durchgehst, wie du in das Wartezimmer marschierst, dort wartest, aufgerufen wirst und dann zum Doc gehst, dann visualisierst du.

Deine Gedanken, die zu Bildern für dich werden, rufen Emotionen in dir hervor. Das beste Beispiel im Tennis ist das Malen eines kompletten Horrorszenarios vor einem wichtigen Match. In solch einem nervenzerfetzenden Horrorfilm geht der Spieler in Gedanken exakt durch, wie er verlieren wird. Was die Zuschauer denken könnten. Wie seine Mannschaft auf seine Niederlage reagieren wird. Welchen Einfluss seine Leistung auf das Ergebnis der gesamten Mannschaften haben wird.

All das, lieber Tennisfreund, nennt man Visualisierung.

Viele Spieler behaupten von sich, sie könnten mit dem Begriff nichts anfangen. Sie zucken mit den Schultern, winken ab oder sagen, der Quatsch sei nichts für sie. Doch denke nochmal in Ruhe nach. Jeder Spieler nutzt seine Fähigkeit zur Visualisierung. Jeder Spieler setzt diese Fähigkeit für sich ein. In den meisten Fällen allerdings negativ. Auf eine Art und Weise, die einen schlechten Einfluss auf seine Performance im Match haben wird.

Warum verbessert die Visualisierung die Performance?

Roger Federer hatte eine starke Bilanz gegen die Aufschlagriesen dieser Tenniswelt. Sei es Ivo Karlovic, Andy Roddick oder auch Milos Raonic. Federer knackte sie alle. In einem Interview wurde Federer gefragt, wie er es immer wieder gegen diese Riesen hinbekommen würde. Er sagte (sinngemäß): “Ich weiß, ich werde viele Asse schlucken müssen. Ich konzentriere mich nur darauf, auf meine Chancen zu lauern. Ein 15:15 oder ein 30:30 ist eine solche Chance. Dann, wenn es die Spielsituation ergibt, will ich da sein!”.

Roger hatte ein ganz klares Bild von sich in diesen Matches vor Augen. Wenn er den Platz betrat, hatte er einen Film im Kopf. Er wusste vorher, wie die Ballwechsel ablaufen werden. Er ist diese Situationen in seinen Gedanken detailliert durchgegangen. Die ganzen Asse, die er um die Ohren bekommen würde. Aber auch die Mini-Chancen, die sich im Match bieten würden. Diese Form der Visualisierung bereitete Roger ideal auf diese Art Matches vor. Ob bewusst oder unbewusst. Roger nutzte die Visualisierung, um bei den Big-Points seine Chancen ergreifen zu können. Er war emotional und taktisch für diese Aufgaben gerüstet. Andere Spieler schieben nach dem 23 Ass des Gegners Frust. Roger tat dies nicht. Er war vorbereitet.

Es ist übrigens auffällig, wie oft Roger Matches gewann, ohne unbedingt der bessere Spieler gewesen zu sein. Es gab eine Phase in seiner Karriere, in der er fast alle engen Matches für sich entscheiden konnte. Als Zuschauer wusste man: “Okay, auch wenn der Gegner jetzt gerade führt. Roger wird das Ding noch biegen!”. Leider können wir nicht rückwirkend in den Kopf von Roger schauen. Wir haben auch keine Option, ihn zu fragen. Aber es ist sehr gut möglich, dass Federer vor und während eines Matches bestimmte Ballwechsel und Spielsituationen im Kopf bereits durchgegangen ist.

Federer nutzte die Fähigkeit zur Visualisierung zu seinem Vorteil. Er malte keine Horrorfilme in seinem Kopf. Er drehte Highlight-Reels der Big-Points, die er gewinnen würde. Die Visualisierung hat, ob man will oder nicht, einen direkten Einfluss auf die Leistung eines jeden Spielers.

Die Bilder, die der Spieler in seinem Kopf zeichnet, lösen Emotionen aus. Das kann Angst, das kann aber auch Zuversicht und Selbstvertrauen sein. Je nachdem, ob der Spieler Horrorfilme oder Highlight-Reels kreiert. Diese Emotionen führen dann zu einem großen Teil den Schläger bei Vorhand, Rückhand und Aufschlag. Jeder Spieler kennt es, wenn er zu zögerlich auf die Bälle zugeht und die Vorhand nicht voll durchschwingt. In diesen Situationen hat der Spieler negative Bilder in seinem Kopf gezeichnet. Diese lösten negative Emotionen aus, die den Spieler zu einem ängstlichen Verhalten im Ballwechsel geradezu gezwungen haben. Dann fragt man sich nach einem leichten Vorhandfehler aus dem Halbfeld: “Man, verflucht, was ist denn mit mir los?”.

Ein mentales Training wäre, diese Bilder im Verlauf eines Matches selbst zu kreieren. Dazu kann man einfache Übungen nutzen, über die wir gleich noch sprechen werden. Ob bewusst oder unbewusst: Jeder Spieler visualisiert während seiner Matches. Die Frage ist nur, ob er dies bewusst tut und zu seinem Vorteil nutzt. Oder ob er seinen Geist einfach machen lässt und sich emotional diktieren lässt.

Wann setzt man die Visualisierung ein?

Die Visualisierung kann vor und während einem Match eingesetzt werden. Wir haben ein paar Zeilen weiter oben über Emotionen gesprochen. Bilder, die dein Kopf malt, formen dein Gemüt. Was würdest du schätzen, wann du bewusst auf die Visualisierung zugreifen solltest? Exakt. Vor einem Match ist ein sehr guter Zeitpunkt, um sich emotional auf die nächste Aufgabe auf dem Platz vorzubereiten. Es geht nicht darum, das perfekte Match in seinen Gedanken durchzugehen. Du sollst auch nicht wie Superman auf den Platz gehen und dich wie der Größte fühlen. Darum geht es nicht. Aber denk zurück an Roger Federer und die Aufschlagriesen. Roger war für diese Matches sehr gut vorbereitet, weil er die Struktur der Ballwechsel zuvor durchgegangen ist. Und da kommen wir der Sache bereits näher.

Wir gehen gleich Übungen durch, mit denen du noch heute deine Visualisierung zu einem besseren Spieler starten kannst.

Ist das Thema Visualisierung nicht zu psychologisch gedacht?

Klar, viele Spieler beschäftigen sich mit solchen Themen nur oberflächlich oder gar nicht. Die großen Champions unseres Sports haben diese mentalen Fähigkeiten aber voll entwickelt. Ob durch Training oder ein angeborenes Talent. Wenn mentale Fähigkeiten aus starken Spieler absolute Champions formen, dann sind diese Fähigkeiten für dich als Clubspieler ganz sicher nicht uninteressant. Ein Tennisspieler und seine Performance bestehen immer aus unterschiedlichen Elementen:

Das Taktische und Spielerische ist dabei ein Teil. Der mentale Part gehört ebenso zur Performance, wie die anderen Teile. Du musst kein Tennis-Psychologe werden. Ein guter Start für dich ist, den mentalen Part als Teil der Performance zu akzeptieren. Einen Kickstart in das Thema der Visualisierung können dir die jetzt folgenden Übungen geben.

Übung #1: Spiele aus deiner Sicht

Du kannst diese Übung am Vorabend eines Matches auf der Couch ausführen. Du kannst sie aber auch während des Matches, zwischen den Ballwechseln oder beim Seitenwechsel, ausführen. Versetze dich dazu in deine Returnposition. Du kannst auch einfach einen Return aus deinem letzten Match als Beispiel nehmen. Stelle dir detailliert vor, wie dein Gegner seine Aufschlagbewegung startet. Du schaust auf den Ball und achtest auf die Bewegungen im Oberkörper des Gegners. Kurz bevor dieser den Ball trifft, gehst du einen Schritt nach vorne und führst den Split-Step aus. 

Im zweiten Schritt schaust du genau auf den Ball, holst kurz mit der Vorhand aus, triffst den Return direkt vor dem Körper und spielst den Return lang vor die Füße deines Gegners zurück. 

Mit dieser simplen Übung trainierst du automatisch deine Visualisierungsfähigkeiten. Es gibt Charaktere, die können sich ihren Gegner exakt mit Kleidung, Farbe des Shirts und Farbe des Rackets vorstellen. Andere wiederum sehen ihre Visualisierung mehr schwarz-weiß, ein Stück weit verschwommen. Das ist aber nicht schlimm. Wichtiger ist, den Return in deinen Gedanken detailliert durchzugehen. Du bereitest mit dieser Übung dein Unterbewusstsein auf das vor, was kommen wird. Das ist natürlich nicht mit einer echten Trainingseinheit auf dem Platz zu vergleichen. Aber Tennis ist ein Sport, indem du schnell und instinktiv agieren musst. Die Spielsituationen sind dynamisch. Dein Unterbewusstsein übernimmt hier den Großteil der Arbeit. Visualisierungsübungen trainieren dein Unterbewusstsein, um deine Fähigkeiten in der Situation effektiver abrufen zu können.

Ich gebe dir noch eine zweite, ebenfalls simple Übung mit.

Übung #2: Spiele deinem Gegner gegen den Lauf

Spielzüge zu visualisieren, ist die einfachste Methode, um mental zu trainieren. Auch diese Übung kannst du vor oder während eines Matches durchgehen. Der Effekt ist einfach beschrieben. Anstatt dir darüber den Kopf zu zerbrechen, wie stark dein Gegner ist, wie schwach du bist, wie schlecht der Platz ist oder wie blöd der Wind steht, fütterst du deinen Geist mit gesunder Nahrung.

Allein das ist ein Grund, zu visualisieren.

Die Übung funktioniert wie folgt:

Du spielst einen Aufschlag auf der Einstandseite mit Slice nach außen. Dein Gegner spielt einen zu kurzen Return. Du rückst nach vorne, gehst auf die Kugel zu, holst früh genug aus, schaust den Ball bis zum Treffpunkt an und spielst diesen dann aus der Mitte des Platzes heraus cross gegen den Lauf des Gegners.

Dieser Spielzug ist nur ein Beispiel. Nimm deinen Lieblings-Spielzug und führe diese Visualisierungsübung mit diesem aus - kein Problem.

Zusammenfassung

Wir halten jetzt fest, was wir in diesem Artikel besprochen haben.

Ich wünsche dir viel Spaß und Erfolg auf dem Platz! 

Viele weitere interessante Artikel findet ihr auf Marcos Homepage: tennis-insider.de!

Verpasse keine News!
Aktiviere die Benachrichtigungen:
Federer Roger
Djokovic Novak

von Marco Kühn

Sonntag
05.05.2024, 15:31 Uhr
zuletzt bearbeitet: 05.05.2024, 15:39 Uhr

Verpasse keine News!
Aktiviere die Benachrichtigungen:
Federer Roger
Djokovic Novak