tennisnet.com Kolumne

Steife Brise aus dem Norden

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 21.04.2016, 09:27 Uhr

"Jo, ik weer in jungen Johren an de Waterkant boorn. Moin! Ne steife Brise von vorn gifft mi jümmer koole Ohren", so heißt es im Lied "Nordisch by Nature" von der Hamburger Band "Fettes Brot", deren Bandmitglieder allesamt aus Schleswig-Holstein kommen. Durch das nördlichste Bundesland Deutschlands weht derzeit nicht nur ein laues Tennislüftchen, sondern eine ganz schön steife Brise. Schleswig-Holstein hat sich zum Bundesland Nummer eins im deutschen Damentennis gemausert. Mit Angelique Kerber (Kiel, Platz 6), Julia Görges (Bad Oldesloe, Platz 20) und Mona Barthel (Neumünster, Platz 27) kommen die drei derzeit besten deutschen Damenspielerinnen aus Schleswig-Holstein. Nur Zufall oder das Produkt exzellenter Nachwuchsarbeit?

"Ich glaube, dass es da kein Erfolgsrezept gibt. Bei jeder Spielerin gibt es eigene Gründe, warum sie so weit oben steht. Wir sind alle einen anderen Weg gegangen und haben nicht bei demselben Trainer trainiert. Vielleicht ist es auch Glück, dass die drei Besten derzeit aus Schleswig-Holstein kommen", meinte Barthel zu diesem Thema im Interview mit tennisnet.com. Nach dem grandiosen Wimbledonsieg von Michael Stich, geboren in Pinneberg und aufgewachsen in Elmshorn, wurde es ruhig um das Tennis in Schleswig-Holstein. Nach Stich suchte man jahrelang in den Top 100 der Weltranglisten vergeblich Spieler aus Schleswig-Holstein. Bei nationalen Turnieren wurden die Spieler, die aus dem Bundesland an der Nord- und Ostsee kamen, gerne auch mal abwertend als Freilos bezeichnet.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Tennis hat sich in Schleswig-Holstein zur Sportart Nummer zwei hinter Handball entwickelt. Ganz oben thront noch der THW Kiel, das sportliche Aushängeschild des Bundeslandes und im vergangenen Jahr auch das weltbeste Handballteam. Einen Fußball-Bundesligisten gab es in Schleswig-Holstein noch nie. Mit Holstein Kiel spielt die beste Mannschaft in der vierten Liga, der Regionalliga Nord. So richten sich die sportlichen Augen in Schleswig-Holstein neben Handball, Pferdesport, Segeln und Surfen vor allem auf Tennis.

Wie beliebt die Tennisspielerinnen in Schleswig-Holstein sind, zeigt auch die Wahl von Kerber zur Sportlerin des Jahres im nördlichsten Bundesland. Görges wurde gar zum fünften Mal zu Lübecks Sportlerin des Jahres gewählt. Kerber, Görges, Barthel duellieren sich nicht nur auf dem Tennisplatz, sondern vielleicht auch bald bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres in Deutschland. Mit Lisa Ponomar steht bereits eine weitere vielversprechende Schleswig-Holsteinerin in den Startlöchern. Eine Talentprobe gab die 15-Jährige aus Ahrensburg bei der Orange Bowl 2012, der inoffiziellen Jugend-Weltmeisterschaft, ab. Ponomar gewann den Doppeltitel in der U16-Konkurrenz. Bei den Herren steht mit dem Lübecker Tobias Kamke (Platz 92) ein Schleswig-Holsteiner in den Top 100. Auch der Weg vom verletzungsgeplagten Julian Reister (beste Platzierung: 92) kann bald wieder in die Top 100 führen.

Der Aufstieg Schleswig-Holsteins zu einem großen Tennis-Bundesland ist auch eng mit den Namen Chris Hastings-Long und Frank Intert verbunden. Hastings-Long setzte 2002 in der kleinen Ortschaft Hartenholm (ca. 1700 Einwohner), zwischen Bad Segeberg und Bad Bramstedt, seine Vision um, die besten männlichen Jugendlichen des Bundeslandes in einem Club zu vereinen. Hartenholm, für das auch gelegentlich Wimbledonsieger Stich auflief, schaffte den Sprung in die 2. Bundesliga. Nach der Erkrankung von Hastings-Long im Jahr 2009 ging es aber bergab mit dem Dorfverein, dessen Herrenmannschaft mittlerweile nach Wahlstedt übergesiedelt ist, womit wir dann beim zweiten Namen wären.

Der Wahlstedter Apotheker Intert kaufte 2004 das Tennisgelände des TC RW Wahlstedt, sanierte den Verein und initiierte das gleiche Modell wie in Hartenholm - aber bei den Damen. In Windeseile spielte sich Wahlstedt mit der Hilfe seiner Toptalente aus Schleswig-Holstein, u.a. mit Görges und Barthel, in die 1. Bundesliga. Im Jahr 2011 meldete der Verein aber seine Erstligamannschaft ab, um sich noch stärker um die Ausbildung junger Tennistalente zu kümmern. Darunter hatte auch das ITF-Damenturnier in Wahlstedt zu leiden, das 2010 nach fünf Jahren eingestellt wurde.

Durch das Turnier-Aus in Wahlstedt gibt es kein Profiturnier mehr in Schleswig-Holstein. 2005 wurde zum letzten Mal das ATP-Challenger-Turnier in Lübeck veranstaltet. Diese Entwicklung ist äußerst schade, nachdem durch die Erfolge von Kerber, Görges, Barthel und Kamke das Tennis in Schleswig-Holstein boomt. Es wäre sehr schön, wenn es in Zukunft wieder Profitennis in Schleswig-Holstein geben würde. Vielleicht finden sich bald Mutige, die ein Profiturnier in Schleswig-Holstein auf die Beine stellen. Das kann ich, der selbst im "schönsten Bundesland der Welt" wohnt, nur begrüßen.

von Christian Albrecht Barschel

Donnerstag
21.04.2016, 09:27 Uhr