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Wimbledon: Angelique Kerber - Protokoll eines historischen Samstags

Viel schlafen, gut essen - und von der Verschiebung der Startzeit nicht weiter nervös machen lassen: Für Angelique Kerber hat am Finaltag von Wimbledon 2018 alles gestimmt.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 15.07.2018, 09:10 Uhr

Angelique Kerber - Mit besten Grüßen vom Clubhaus-Balkon

Am Tag, an dem sich Angelique Kerber in die Tennis-Unsterblichkeit schlagen wird, geht sie im berühmtesten Klub der Welt erst einmal auf Tauchstation, in die Deckung. Drei Stunden vor dem Endspiel gegen Serena Williams steht sie auf Platz 14 im Aarongi Park, dem Trainingsgelände von Wimbledon. Weiter weg von der Zentralbühne der Grand Slam-Festspiele, dem unverwechselbaren Centre Court, geht es nicht, es ist ein Ort, den Kerber liebt.

Geschützt vor den Blicken der Öffentlichkeit, hier hat sie ihre Ruhe, hier kann sie sich noch einmal sammeln vor dem großen Spiel. Wim Fissette, der Trainer, schlägt sich mit Kerber ein, bringt sie auf Temperatur. Er hat ein gutes Gefüh, ein sehr gutes sogar. "Ich war mir sicher, dass sie gewinnen wird", sagt er später, "sie ist so kontrolliert und selbstbewußt in den letzten Tagen aufgetreten, dass ich keine Zweifel hatte.

Kerber gibt sich Djokovic und Nadal

Kerber hat eine ruhige Nacht verbracht, sie ist am Abend vor dem Finale mit ihrem Team zum Essen unterwegs gewesen. In den sozialen Netzwerken kursiert ein Bild, das sie spät an diesem Freitag an einer Bushaltestelle zeigt. Ist die Wimbledon-Finalistin etwa mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs?

Aufgeregt dementiert sie später, nach ihrem Sieg gegen Serena Williams, den sparsamen Eindruck: "Ich stand nur vor dieser Haltstelle, wartete auf ein Taxi." Mit Tennis geht Kerber dann ins Bett, sie schaut sich noch das Late-Night-Match zwischen Novak Djokovic und Rafael Nadal an, das Halbfinal-Drama unterm geschlossenen Centre Court-Dach.

Potenzial zum Nervendesaster

Dieses Spiel bringt dann auch den Ablaufplan am Samstag durcheinander. Eigentlich hat das Damenfinale eine unumstößliche Anpfiffzeit, um 14 Uhr am Samstag geht es los. Immer. Seit Ewigkeiten. Aber Djokovic und Nadal gehen ab 13 Uhr in die Verlängerung, und es wird eine wirkliche Extraschicht. Fünf Stunden und 15 Minuten bekämpfen sich die beiden Superstars - und Kerber hängt wie Serena Williams, die Gegnerin, in der Warteschleife fest.

Kerber isst mittags ein paar Nudeln, dann heißt es die Zeit totschlagen, fokussiert bleiben, jederzeit bereit sein, wenn der Start erfolgt. "Es ist eine schwierige Zeit. Diese Ungewissheit, wann man nun anfängt. Aber über die Jahre habe ich soviel Erfahrung gesammelt, dass ich das doch ganz gut hinkriege", sagt Kerber hinterher.

Sie ist schließlich inzwischen eine der Routiniertesten im Wanderzirkus, nicht ganz so lange unterwegs wie Williams. Aber so professionell ausgereift, dass das Zeit-Spiel nicht zum persönlichen Nervendesaster wird.

Wim Fissette legt die Marschroute fest

Kurz vor 16 Uhr wird es dann ernst. Der Oberschiedsrichter Andrew Jarrett ruft die beiden Spielerinnen zum Einsatz auf. Kerber hat sich gerade noch einmal mit Trainer Fissette, dem engsten Vertrauten, besprochen. Die Marschroute ist klar: Bloß nicht auf Abwarten spielen, sondern selbst die Initiative ergreifen. Aktion statt Reaktion.

Es war auch das Motto der vergangenen Monate gewesen, sozusagen der Leitsatz, unter dem die Allianz Kerber/Fissette stand. Kerber war zu Beginn des Turniers noch einmal in alte Fehler gefallen, in den beiden ersten Spielen spielte sie wie die kriselnde Kerber des Jahres 2017, rannte und verteidigte nur. Das Duo setzte sich zu einer harten Manöverkritik hin, als die zweite Runde gegen die 19-jährige Claire Liu nur mit Ach und Krach überstanden war - und stellte fest: "So kann man Wimbledon nicht gewinnen."

In Wimbledon folgt ein überzeugendes Spiel dem anderen

Dann aber folgte ein überzeugendes Spiel nach dem anderen, Kerber bezwang hochgehandelte Konkurrenz, gerade auch die jungen Wilden der Branche, die elegante Schweizerin Belinda Bencic, die trickreiche Russin Daria Kasatkina und schließlich im Halbfinale die feurige Lettin und French Open-Siegerin 2017, Jelena Ostapenko. Als sie sich nun bereit macht, auf den Centre Court zu marschieren, ist sie die Favoritin.

Und nicht Serena Williams, die siebenmalige Gewinnerin, die nach Schwangerschaft, Geburt und Babypause erst ihr viertes Turnier spielt. Zwar glauben viele Experten gerade aus den USA und aus England fest an einen Williams-Sieg, sehr zur Verwunderung von Martina Navratilova, die das später an diesem Samstag so vorträgt. Aber sie selbst, die neunmalige Siegerin, die Rekordgewinnerin, ist da von vornherein anderer Meinung: "Angie hat eine wunderbare Chance. Weil sie wunderbar spielt."

Kerber spielt sich frei

Kerber ist nervös, als sie im Herzen von Wimbledon ankommt. Auf dem Centre Court, auf dem die größten Champions gewonnen haben, die deutschen Helden Steffi Graf und Boris Becker. Die anderen Stars, Navratilova, Evert, Borg, McEnroe, Sampras, Federer, Nadal. Und natürlich die Williamses, die fast anderthalb Jahrzehnte lang Wimbledon und dieses Tennis-Grün fest in ihrem Besitz hielten.

Kerber mag unruhig sein, angespannt, aufgeregt. Aber sie spielt sich schnell frei, kommt in ihren Rhythmus, findet Zuversicht. Sie wirkt ganz bei sich selbst, mittendrin im Masterplan zum Triumph. Sie ist faszinierend cool, unglaublich konzentriert.

Nur fünf leichte Fehler - insgesamt

Sie macht Williams verrückt, weil sie kaum Fehler macht. Es werden am Ende der Partie nur fünf Fehler sein, es ist eine Quote, von der man eigentlich nur träumen kann. Aber Kerber ist eben auch die Aggressorin, gezielt setzt sie ihre Nadelstiche, mit wuchtigen Siegschlägen aus allen Winkeln des Platzes. Es ist ein Auftritt, der wie unterm Brennglas die Evolution von Kerbers Spiel und Karriere aufzeigt, den Weg, den sie von der ersten Euphoriewelle des Jahres 2016 über den Absturz 2017 bis zur Reformoffensive danach gegangen ist. Kerber ist im Hier und Jetzt besser denn je, sie ist auch reif für die schwerste Aufgabe, für den Höchstpreis im Tennis - für den Wimbledon-Triumph.

Die Mutter aller Siege

Um 18.22 Uhr ist es dann soweit. Der Moment, von dem sie sagt, er sei ihr "Lebenstraum" gewesen. Williams schlägt eine Rückhand ins Netz, der 6:3, 6:3-Sieg ist perfekt an einem perfekten Tag - und Kerber gleitet hinab auf den Rasen, wird von Tränen geschüttelt, läuft dann hinauf in die Ehrenloge, wo sie von Trainer Fissette und Mama Beata geherzt und gedrückt wird.

Es ist die Mutter aller Siege, gegen die großartige Mutter und großartige Verliererin Serena. "Danke, danke. Vielen Dank", sagt Kerber, als die Amerikanerin sie umarmt. Später, beim Siegerinterview, wird sie sagen: "Sie ist eine großartige Persönlichkeit. Ein Vorbild für uns alle."

18.27 Uhr zeigt die Uhr auf dem Centre Court an, als der Herzog von Kent der ersten deutschen Wimbledonsiegerin dieses Jahrhunderts die Venus Rosewater-Schale überreicht, vor den Augen der Herzoginnen Kate und Meghan. Die royale Instanz an diesem 14. Juli 2018 ist aber Kerber, sie ist die Königin von Wimbledon, die Königin des Centre Court. "Es ist ein Moment, den man für alle Ewigkeit festhalten will", sagt Kerber später. Aber sie bleibt nun auch ein Leben lang Wimbledonsiegerin, sie weiß es ja selbst, erklärt es bei einem Pressegespräch am Abend so: "Das ist für immer."

Gruß vom Klubbalkon

Kaum hat Kerber den Centre Court verlassen, folgen schon die nächsten denkwürdigen Augenblicke. Gemeinsam mit Klubchef Philip Brooke steht sie vor der Siegerinnengalerie, auf der die Namen der Navratilovas, Grafs und Co. aufgelistet sind. Wimbledon ist schnell, wenn es gilt, ikonische Bilder zu produzieren - und so ist der Namenszug Kerber für 2018 schon aufgedruckt. Es geht weiter für Kerber, Smalltalk mit den beiden Herzoginnen ("Sie waren unheimlich nett zu mir"), ein Küsschen von IOC-Präsident Thomas Bach, dann der Ausflug auf den Balkon vor dem prunkvollen Haupteingang. Die Menge johlt, Kerber zeigt glückstrunken die Schale. Wieder und wieder. Kerber genießt es. Sie zeigt ihr schönstes Lächeln.

Wiedersehen auf der Spielerterrasse

Um halb Acht läuft sie auf die Terrasse des Spielerrestaurants, es ist das Wiedersehen mit der Familie, mit Freunden, die herüber gekommen sind nach London, mit Sponsorenpartnern. Kerber nippt an einem Gläschen Sekt, es ist keine ausgelassene Freude zu sehen, es ist eher ein Gefühl der Dankbarkeit, das beherrschend ist. Dankbarkeit, dass dieser Tag, dieser Sieg möglich geworden ist.

Für 19.45 Uhr ist ein Fototermin angesetzt, ein Vertreter des All England Club steckt Kerber eine kleine lilafarbene Plakette an, sie ist als Siegerin nun lebenslang Mitglied in diesem elitärsten aller Tennisclubs. Für sie ist nun immer ein Platz frei in der sogenannten Members Box auf dem Centre Court.

Stafettenlauf durch Presse, Funk und Fernsehen

Was es bedeutet, Wimbledonsiegerin zu sein, davon bekommt Kerber am Abend einen ersten dezenten Vorgeschmack. Einen Stafettenlauf durch Presse, Funk und Fernsehen wie jetzt, zwei Stunden nach dem Schlag in ein neues Tennisleben, hat sie noch nie bewältigen dürfen - oder müssen. Selbst nicht nach den Grand Slam-Siegen 2016, nach dem damaligen Sprung auf Platz 1.

Dem großen Siegerinnengespräch mit der Weltpresse im "Main Interview Romm" folgen Einzeltermine mit verschiedenen Networks, ganz am Ende der ersten Terminliste steht sogar ein Talk mit "Rolex TV", von dem man bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wußte, dass es überhaupt existiert.

Der Termin-Wahnsinn nimmt in Wimbledon kein Ende

Heraus aus den Katakomben des Pressezentrums, hinauf auf die Medienterrasse, heißt es dann. Dort gibt es neuerdings eine Mixedzone, weil der Blick auf die Anlage so schön ist, und dort wird mit Kerber auch ein Schaltgespräch fürs "Aktuelle Sport-Studio" aufgezeichnet. Kerber freut sich über den tosenden Beifall in Mainz, der ihr in den Kopfhörer dringt. Dann sagt sie zu Moderator Jochen Breyer: "Es ist immer noch ein Wahnsinn, dieser Sieg. Alles, was hier passiert ist."

Aber auch der Termin-Wahnsinn ist noch nicht zu Ende, es warten noch die großen Stationen, CNN, der Tennis Channel, Fox Sports. Und auch die BBC, der Sender, der hier das Heimspiel hat. Kerber kommt hinein zur Aufzeichnung der legendären Sendung "Today at Wimbledon", plaudert locker mit den anderen Gästen, auch mit Martina Navratilova.

Es wird Deutsch gesprochen

Kurz vor Mitternacht, als der Talk dann in ganz Britannien gesendet wird, verabschiedet sich Moderatorin Claire Balding mit "Gute Nacht" von den Fern-Sehern. Und Kerber stimmt ein: "Gute Nacht aus Wimbledon". Es wird also wieder Deutsch gesprochen hier, beim Turnier der Turnieren.

Es ist schon Viertel nach Elf, als Kerber, das Team und die Familie in die Innenstadt aufbrechen, im Taxi nach London sitzen. Sie wollen den Sieg in Wimbledon feiern, aber Wimbledon und seine Pflichten hinter sich lassen. "Es war eine schöne Feier. Im kleinen Kreis. Aber richtig gut", sagt Kerber. Eine Feier, wie sie die Wimbledonsiegerin Kerber mag, die Frau, die ab dem 14. Juli nun noch einmal ein anderes Leben führen wird.

von Jörg Allmeroth

Sonntag
15.07.2018, 09:10 Uhr