Angelique Kerber – Die Siegerfrau ohne Allüren

Die einstige Randfigur, Angelique Kerber, steht nun im hell erleuchteten Rampenlicht.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 31.01.2016, 12:31 Uhr

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Angelique Kerber - WTA-Tour

Von Jörg Allmeroth

Als sich das deutsche Frauen-Nationalteam vor einigen Jahren im katarischen Doha zu einem Trainingslager traf, stand am letzten Tag ein Gruppenfoto der Tennis-Reisetruppe an. Es war eine aufschlussreiche Szene. Andrea Petkovic , die quirlige Darmstädterin, stellte sich am Brunnen des Luxushotels "Ritz Carlton" wie selbstverständlich in die Mitte, daneben platzierten sich ebenfalls ganz automatisch und zentral Sabine Lisicki und Julia Görges . Angelique Kerber aber, die scheue, schüchterne Kielerin, stellte sich zunächst so weit an den Rand, dass der Bildermacher sie bitten musste, doch etwas näher an ihre prominenteren Teamkolleginnen heranzurücken. Und als Kerber dann in die Kamera lächelte, wirkte es ziemlich unsicher, bemüht und zwanghaft. Nein, mittendrin oder gar vorne dabei war Kerber nicht gerade in der Anfangszeit des fröhlichen deutschen Fräuleinwunders im Welttennis - sondern nur irgendwie dabei.

"Ein Muster für Beharrlichkeit und Entschlossenheit"

Man muss sich diesen Moment, diese auch unsichtbar aufschimmernde Hackordnung, noch einmal vor Augen führen, um zu verstehen, was an diesem 30. Januar 2016 in Melbourne passiert ist. Denn über viele Jahre eines harten Lernprozesses, über bittere Rückschläge, herbe Enttäuschungen und sogar ernsthafte Rücktrittsgedanken, hat sich ausgerechnet jene Angelique Kerber zur überragenden, selbstbewusstesten und souveränsten Spielerin dieser Generation entwickelt, zur Erbin auch einer gewissen Steffi Graf als Grand-Slam-Königin.

"Ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, um diesen Moment erleben zu können", sagte die in Tränen aufgelöste Kielerin, als ihr am Samstagabend der denkbar größte Coup im Tennis der Jetztzeit gelungen war, ein Australian-Open-Sieg gegen die einsame Machtfigur der Branche , die 34-jährige US-Amerikanerin Serena Williams . Wie sie sich der Herausforderung gegen die 21-malige Grand-Slam-Siegerin stellte, mit einer grandiosen Furchtlosigkeit, mit Mumm und Mut, ließ selbst die Legenden dieses Sports schwärmen: "Angelique ist ein Muster für Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Hut ab vor dieser Leistung", sagte die US-Amerikanerin Billie Jean King , die Pionierin des professionellen Tennis.

"Sie ist jemand, der nicht auffallen will und muss"

Der letzte Deutsche, der vor 13 Jahren in einem Endspiel bei den Australian Open stand, war der tüchtige Rainer Schüttler . Er verlor damals glasklar gegen Andre Agassi , den heutigen Ehemann von Steffi Graf. Mit dem Menschen und Sportler Schüttler, diesem einst so unermüdlichen Fighter, hat Angelique Kerber ganz viel gemein: Das eiserne Berufsethos, die Bereitschaft, in jeder Sekunde für Veränderung und damit Verbesserung bereit zu sein. Den langen Anlauf in die Weltspitze, erst nach vielen schweren Karrierejahren. Und auch die Unscheinbarkeit, die eher diskrete Präsenz, das ruhige Naturell. "‚Angie' ist eben auch ein sehr zurückhaltender Mensch. Ruhig und bodenständig", sagt ihre Mutter Beata, wohl die wichtigste Bezugsperson im Leben des neuen deutschen Sportstars, "sie ist jemand, der nicht auffallen will und muss." Schon zu Beginn des Kerber-Aufstiegs in der Weltrangliste, lange vor dem Supertriumph von Melbourne, prophezeite die Mama, einst als Tennistrainerin aktiv: "Mit dem Erfolg wird sie schon klarkommen. Da hilft ihr der unaufgeregte Charakter. Sie hat null Allüren."

Besser, immer besser werden zu wollen, das ist im viel wettbewerbsstärkeren, intensiveren Frauentennis dieser Tage eine Grundanforderung - jedenfalls dann, wenn man sich nicht mit einem Platz im grauen Niemandsland zufrieden gibt. Für Kerber gab es einen Moment, der alles drehte und wendete, nach einem vernichtenden Erstrunden-Aus in Wimbledon im Jahr 2011. In der Stunde der Enttäuschung wollte sie erst aufhören, doch dann fällte sie eine Entscheidung mit Langzeitwirkung, mit Nachhall bis zum Melbourne-Triumph gegen "Serena, die Große" (New York Times). Kerber wechselte erstmals aus der Beschaulichkeit der heimischen Trainingsbasis in die Offenbacher Akademie von Rainer Schüttler und Alex Waske , und es war nichts weniger als die Initialzündung für ihre später so beeindruckende Karriere. Kerber trainierte so intensiv wie nie, verlor viele Pfunde - und gewann über ihr neues Körpergefühl auch mehr Selbstwert. "Fitness ist der eigentliche Schlüssel zu meinen Erfolgen", sagt Kerber.

"Schau ' nach vorne, nie zurück"

Aber eben auch das eigene, aufgepeppte Ego. Lange war Kerber ja die Zweifelnde, die Grüblerin, die Frau, die das Mögliche unmöglich machte. Dass sie in Melbourne eine der größten Überraschungen der jüngeren Tennisgeschichte produzierte, nun auf einmal das Unmögliche möglich machte, hat auch mit einer zugewachsenen Unverdrossenheit zu tun - der Eigenschaft, sich trotz vieler grimmiger Niederlagen und Matches buchstäblich zum Heulen doch nie entscheidend oder unwiderruflich zurückwerfen zu lassen. Kerber lernte beharrlich aus Pleiten und Pannen, reformierte aufs immer Neue ihr Spiel, holte sich Spitzenberater, verpflichtete über die Jahre immer wieder den treuen Coach Torben Beltz an ihrer Seite, aber sie folgte letztlich auch ihrem lakonischen Lebensmotto: "Schau' nach vorne, nie zurück."

Diese Einstellung, dieses Credo galt - ganz besonders aktuell - auch nach dem letzten Jahr und vor diesen denkwürdigen Australian Open. Bei den großen Turnieren versagte Kerber 2015 fast auf der ganzen Linie, nur bei den US Open hatte sie einen großen Auftritt gegen ihre alte Angstgegnerin Victoria Azarenka . Aber über diesem Spiel stand dennoch und gleichwohl das Scheitern, genauso wie später bei den WTA Finals in Singapur. Im letzten Vorrundenspiel brauchte sie nur einen Satzgewinn, um ins Halbfinale vorzudringen - und verlor in zwei Sätzen. Ein traumatischer Augenblick hätte das werden können, aber Kerber tat etwas anderes - sie sagte sich selbst und ihren Konkurrentinnen den Kampf an. Raus aus dem Mitläuferinnen-Dasein in der Weltspitze wolle sie, nicht bloß einfach eine Top-Ten-Spielerin sein, erklärte Kerber. Und überhaupt: "Ich will es krachen lassen jetzt." Was Mutter Beata, alles in allem, nicht überraschen konnte: "‚Angie' vertraut darauf, immer, absolut immer etwas zum Besseren wenden zu können." Fast "bockig" erscheine ihr die Tochter zuweilen im Ehrgeiz.

"Sie gibt kein Spiel verloren, in keiner Sekunde"

An den frühen Größen des bestaunten Fräuleinwunders made in Germany ist Kerber, einst Randfigur abseits des Rampenlichts, nun längst vorbeigezogen. Das Fräulein Unscheinbar kam langsam, aber gewaltig. Wurde zum Fräulein Zuverlässig , das über viele Spielzeiten in den Top Ten rangierte - und sich nicht diese wilden Berg- und Talfahrten und emotionalen Kapriolen leistete wie ihre Mitstreiterinnen aus dem deutschen Fed-Cup-Team, Petkovic etwa. Oder auch Lisicki, die Wimbledon-Finalistin des Jahres 2013.Kerber ist da aus anderem Holz geschnitzt, widerstandsfähiger, willensstärker, auch solider. Eine, die über sich sagt: "Du kannst hinfallen, das passiert in unserem Sport ganz oft. Aber du musst wieder aufstehen." Dieses Charaktermerkmal sticht für Bundestrainerin Barbara Rittner ganz besonders heraus, Kerbers unheimliche Zähigkeit: "Sie gibt kein Spiel verloren, in keiner Sekunde", so die Leverkusenerin, "aber sie hat sich, trotz aller äußeren Zweifel und Selbstzweifel, auch als Tennisprofi nie aufgegeben." Heute, im Hier und Jetzt, sagt Mutter Kerber, denn auch dies: "Man spürt einfach, dass ‚Angie' zu den Guten gehört. Sie spielt so, und sie verhält sich auch so."

Bestärkt in ihrem Glauben hatte Kerber allerdings auch die Über-Frau des deutschen Tennis und Sports, die 22-malige Grand-Slam-Siegerin Stefanie Graf. Viele gemeinsame Trainingstage haben Graf und Kerber in den letzten Jahren absolviert, in Las Vegas, der neuen Heimat der Gräfin. Graf entwickelte Sympathie für die Erbin, nicht nur wegen der sportlichen Qualitäten, sondern auch weil sie die zurückhaltende, angenehm bescheidende Art Kerbers schätzte. Sie müsse mit "noch breiterem Rücken" auf den Platz marschieren, riet ihr Graf bei der letzten Zusammenkunft, "und wirklich unbedingt" an sich glauben. Kerber revanchierte sich in Melbourne auf ihre Weise: Mit dem Sieg der deutschen Überraschungsfrau bleibt Graf vorerst noch die erfolgreichste Grand-Slam-Spielerin der Moderne, mit 22 Titeln. Vor Serena Williams mit nach wie vor 21 Pokalsiegen.

"Ich bin hungrig nach mehr"

Gratuliert haben sie ihr alle seit dem Schlag ins Glück, seit Samstagabend 21:51 Uhr auf Melbournes Center Court. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Fußball-Nationalmannschaft, Basketball-Gigant Dirk Nowitzki, Golf-Supermann Martin Kaymer. Und alle, wirklich alle, die im Tennis etwas bedeuten und zu sagen haben, natürlich auch Boris Becker , der Trainer des Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic . "Ich ziehe den Hut vor ‚Angie'", sagte Becker. An ihn musste man ja auch unwillkürlich denken in dieser australischen Nacht, an seine Sensationsmission in Wimbledon 1985. Und an das vergleichbare Kunststück Kerbers, einen faszinierenden Triumph wider alle Vernunft und Erwartung, einen Sieg im ersten Finale auch gleich.

Becker war 17 damals, Kerber ist 28 Jahre alt. Er triumphierte in einer Zeit, in der es keine deutschen Weltstars gab, nirgends in der Gesellschaft, nicht sonst im Sport. Becker siegte im absolut perfekten Moment, er verdrängte mit seinen unwägbaren Schlachten sogar den darniederliegenden, kriselnden Fußball von Platz eins. Als Kerber in Melbourne siegte, lief das Spiel auf "Eurosport", bei den Gebührensendern wurde entweder die Wintersport-Endlosschleife oder das Kinderprogramm gesendet. "Ich würde mir wünschen, dass Tennis wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein rückt", sagt Bundestrainerin Rittner, "‚ARD' und ‚ZDF' sollten keine Fußballsender sein." Kerber in jedem Fall hat das Zeug dazu, ihren Sport buchstäblich populärer zu machen, sie muss kein One-Hit-Wonder bleiben, eine Einmal-Gewinnerin. "Ich bin noch nicht am Ende meiner Möglichkeiten", sagt die Kielerin, "ich bin hungrig nach mehr." Das größte Spiel, der größte Karriere-Tag bisher - das soll erst der Anfang, nicht das Ende der Reise sein.

von tennisnet.com

Sonntag
31.01.2016, 12:31 Uhr