Angelique Kerber – Ihr langer, schwerer Marsch ins Glück

Die 28-jährige Kielerin steht in Melbourne erstmals in einem Grand-Slam-Finale.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 28.01.2016, 11:37 Uhr

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Angelique Kerber - Australian Open 2016

Beata Kerber hat die dramatische Szene noch genau vor Augen. Es war ein später Juni-Tag im Jahr 2011, an dem ihre Tochter Angelique als Erstrunden-Verliererin aus Wimbledon zurückkam. Geschlagen und niedergeschlagen. "Sie war total am Boden. Und dann sagte sie ohne lange Vorrede: Ich mache Schluss mit dem Tennis. Ich habe keinen Bock mehr. Ich quäle mich, ich rackere pausenlos und es kommt nichts rum. Das ist kein Sport mehr für mich." Eine "wahnsinnig angespannte Situation" sei das gewesen, erinnert sich die Mutter, selbst auch Tennislehrerin, "ich konnte sie einfach nicht aufmuntern. Sie war zunächst entschlossen, das ganze Profileben aufzugeben."

Im gelassenen Blick zurück kann Angelique Kerber selbst nur schmunzeln und auch staunen über die Episode im elterlichen Haus in Kiel, über die Tiefe der sportlichen Depression- und über den Dreh, den sie ihrem Leben im Wanderzirkus der Berufsspielerinnen gegeben hat: "Es ist eigentlich unfassbar", sagt die 28-jährige, "wie ein Wunder." Bald nach dem gallenbitteren Wimbledon-Frust gab es mit dem sensationellen Einzug ins US-Open-Halbfinale 2011 so etwas wie einen Erweckungsmoment für Kerber, und seitdem stößt die talentierte Hand-Werkerin in immer neue, verheißungsvollere Regionen des professionellen Tennis-Universums vor. Am Donnerstag, dem denkwürdigen 28. Januar 2015, setzte die Norddeutsche mit polnischen Familienwurzeln ihrem langen, schweren Marsch in die Weltspitze mit dem Einzug ins Australian-Open-Finale ( 6:2, 7:5 gegen die Britin Johanna Konta) endgültig die Krone auf.

Finale gegen die überragende Powerfrau

Es war der letzte, der zwingendste Beweis, dass die einstige Meisterin der erheblichen Unberechenbarkeit zu einer beständigen, seriösen Spitzenkraft geworden ist, mit der immer und überall bei der Tour-Tingelei ganz vorne zu rechnen ist. "Ihre Zähigkeit und Hartnäckigkeit sind wirklich bewundernswert", sagt Barbara Rittner, die deutsche Fed-Cup-Chefin. Nun kann bloß noch eine den ersten deutschen Grand-Slam-Sieg seit Steffi Graf (1999 Paris) verhindern, im Endspiel von Melbourne - und das ist leider keine andere als die überragende Powerfrau Serena Williams. 21-malige Grand-Slam-Siegerin, Nummer eins der Welt. Und schon sechs Mal in Down Under erfolgreich. "Was habe ich gegen sie schon zu verlieren?", sagt Kerber. "Ich werde nochmal alles, absolut alles geben. Ich gehe entschlossen raus auf den Platz." Eins hat sie allerdings schon vor dem ersten Ballwechsel im größten Spiel ihres Lebens erreicht: Platz vier der Weltrangliste, eine persönliche Rekordmarke.

Wenn Kerber inzwischen bei Grand-Slam-Turnieren mit Meisterspielerinnen wie Williams oder Sharapova aufschlägt, dann tut sie es auch mit dem gewachsenen Erfahrungsschatz einer Frau, die auf den Centre Courts der Welt in den letzten Jahren so ziemlich alles genossen und durchlitten hat. Die Euphorie des schnellen Gipfelsturms bis in die Top Ten, die ersten großen Triumphe. Aber eben auch die Beschwerlichkeit, sich anschließend in der Hackordnung der Branche oben, weit oben behaupten zu müssen. Wie fast alle Szenegrößen erlebte Kerber die Anstrengung, ihren Status quo als Top-Kraft verteidigen zu wollen und müssen, als "extrem schwierig und anstrengend": "Der Druck von außen, aber auch der Druck, den ich mir selbst gemacht habe, waren manchmal kaum zum Aushalten."

Parallelen zu Steffi Graf

Auch wenn es in ihrer Karriere nicht immer danach aussah: Kerber ist die wirksamste Exponentin des neuen deutschen Fräuleinwunders im Tourbetrieb gewesen - eine Spielerin, die der großen Leitfigur Steffi Graf charakterlich sehr verwandt ist. "‚Angie' ist jemand, der das ganze Drumherum im Tennis eigentlich nicht braucht, diesen Glitzer und Glamour", sagt ihr ehemaliger Trainer Benjamin Ebrahimzadeh, "sie liebt das Spiel selbst, diesen Zweikampf auf dem Platz." Ähnlich wie Graf fühlt sich auch Kerber unwohl, wenn sie zum Frage-und-Antwort-Spiel mit der Presse gebeten wird oder auch zu gesellschaftlichen Tennis-Anlässen eingeladen ist. Sie erledigt die Termine dann, wie einst die große Meisterin, mit einer gewissen Routine und Pflichtschuldigkeit, aber immer auch mit einer leichten Befangenheit. "Am schönsten für ‚Angie' ist es, wenn sie den Platz betreten kann, dort fühlt sie sich am wohlsten", sagt Mutter Kerber. Die Mama beschreibt die Tochter als "jemanden, der nicht auffallen will und muss. Der sich eher mit der Masse bewegt als unbedingt aus ihr herausragen zu wollen." Nur kleinere Extravaganzen leistet sich die tüchtige Single-Frau aus dem hohen Norden: Den Tick, "so an die Hundert paar Schuhe zu besitzen." Und die Lust am schnellen Autofahren, ein wenig auf den Spuren von Weltmeister Sebastian Vettel, den sie "einfach stark" findet: "200 Stundenkilometer auf der Autobahn, die sind nicht ungewöhnlich für mich."

Die MIttzwanzigerin, der es schon unangenehm ist, "wenn mich im Restaurant jemand um ein Autogramm bittet", verbirgt hinter ihrer Bodenständigkeit und Schüchternheit einen gewaltigen, manchmal fast verzehrenden Ehrgeiz. Anderseits weiß eine wie Bundestrainerin Rittner auch, "dass du nur mit dieser dauernden Willenskraft und diesem hohen Anspruch an dich selbst eine solche Karriere schaffen kannst." Eine Karriere, die sie von Weltranglisten-Platz 108 zum Ende der Serie 2008 zur über Jahre stabilen Top-Ten-Spielerin und nun auch zur Grand-Slam-Finalistin gebracht hat. Neben Mutter Beata, Bundestrainerin Rittner und dem treuen Langzeitbegleiter Torben Beltz, dem letztes Jahr reaktivierten Coach aus der norddeutschen Heimat, wirkte oft auch der Stuttgarter Mentaltrainer Holger Fischer als effizienter Helfer im Hintergrund mit, als einer, so Kerber, "der mir den Glauben gab, es immer irgendwie schaffen und drehen zu können im Tennis." So wurde sie besser, beständiger und erfolgreicher als jede andere Deutsche seit den Tagen von Steffi Graf und Anke Huber - jene Angelique Kerber, die selbst ihre engsten Parteigänger immer als zu nett, als zu lieb und als nicht ausreichend kaltschnäuzig und kaltblütig genug betrachtet hatten. "Vielleicht hat ihr anfangs auch diese innere Härte gefehlt, dieses innere Feuer, das jetzt in ihr brennt", sagt Mutter Kerber, "aber sie brauchte eben auch diese Zeit, um erwachsen zu werden in ihrem Beruf."

Ego langsam, aber beharrlich gewachsen

Letztes Jahr scheiterte sie bei allen "Major"-Wettbewerben noch in der ersten Woche, vor allem, weil sie selbst wieder den meisten Druck auf sich ausübte, unerbittlich dabei. Nun meisterte sie alle Bewährungsproben, die Viertelfinal-Kür gegen die Weißrussin Azarenka, gegen die sie vorher noch nie gewonnen hatte. Und nun auch die Halbfinal-Pflicht gegen die Britin Konta, das Alltagsgeschäft als Favoritin, bei dem es keinen Schönheitspreis zu verteilen gab. Kerbers Ego ist langsam, aber beharrlich stärker geworden, nicht zuletzt, weil ihr die Teilzeit-Beraterin Steffi Graf bei mancher gemeinsamen Trainingseinheit in Las Vegas Mut machte. Den "Mut, ganz fest an sich zu glauben". Den Gegnerinnen symbolisch die Faust zu zeigen, Haltung und Stärke und Siegesgewissheit auszustrahlen.

Verrückt genug, dass im ersten Turnierspiel von Melbourne ein Desaster drohte, gegen die Japanerin Misaki Doi musste Kerber einen Matchball abwehren. Danach war Kerber aber wieder in ihrer Paraderolle zu sehen, als Fräulein Zuverlässig. Alles wurde gut für die drahtige Kielerin, eine Athletin, die in all den komplizierten Tour-Jahren reifer, erwachsener und viel professioneller wurde. All das muss sie nun gegen Serena Williams zeigen, gegen die Beste der Welt. Im größten Spiel in Kerbers Tennisleben muss sie auch das stärkste Spiel jemals zeigen. Nicht weniger, nicht mehr.

von tennisnet.com

Donnerstag
28.01.2016, 11:37 Uhr