tennisnet.com Allgemeines

Fred Perrys traurige Erben

72-jährige Durststrecke: Wimbledon wartet auf einen englischen Sieger.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 20.06.2010, 11:57 Uhr

Von Jörg Allmeroth, London

Die beiden Sommerwochen, die Rasenparty draußen im Londoner Südwesten, das bedeutendste Grand-Slam-Schauspiel der Saison – das ist auch immer noch seine große Zeit. Dann ist Frederick John Perry in aller Munde, dann steht sein berühmt gewordener Name wieder in den bedeutendsten Blättern der Hauptstadt, dann ist er aus keiner Tennis-Fernsehdiskussion bei der BBC wegzudenken.

Es ist wie ein Automatismus, wie ein wiederkehrender Reflex: Alljährlich, wenn Englands beste Profis vergeblich einen Anlauf zum Ruhm bei den Offenen Englischen Meisterschaften im All England Lawn Tennis and Croquet Club nehmen, wird Fred Perry wieder ins Bewusstsein der Gastgeber-Nation zurückkatapultiert – der Mann, dessen Statue gleich hinterm Haupteingang an der Church Road an die großen, glorreichen Zeiten erinnert. Der Mann, der vor nunmehr 72 Jahren als letzter Engländer das wichtigste Turnier der Welt gewann, und zwar nicht zu knapp – mit 6:1, 6:1 und 6:0 gegen den deutschen Tennis-Baron Gottfried von Cramm.

Perrys traurige Erben: Das ist so etwas wie ein Serien-Klassiker auf den Tennisgrüns von Wimbledon, eine Fortsetzungsserie über mehr als sieben Jahrzehnte und ohne Happy-End. Und so bleibt den leidgeplagten Fans nach kurzen Momenten vorauseilender Euphorie und sich zuverlässig einstellender Enttäuschung – so wie auch im Fall des Schotten Andy Murray (Foto) - regelmäßig nichts anderes übrig, als sich an auswärtigen Stars zu erfreuen, sie gar in ihrem Herzen zu adoptieren: So wie einst den eiskalten, wirklich coolen Schweden Björn Borg, den ersten Popstar des Wanderzirkus. So wie einst in den 80er Jahren diesen verrückten jungen Deutschen namens Boris Becker, dem sie dank seiner erfrischenden Hoppla-jetzt-komm-ich-Attitüde und seinem couragierten Powertennis sogar nachsahen, ein Deutscher zu sein. Und so wie in den letzten Jahren den eleganten Schweizer Maestro Roger Federer, der auch mühelos in das aristokratische Tennis der Vorkriegsepoche gepasst hätte, eben in jene Zeiten, in denen Perry und die französischen Musketiere den Schläger schwangen.

„Es ist einfach unglaublich“, sagt Federer, „dass England in diesem Turnier mit so wenigen Spielern vertreten ist.“ In diesem Jahr geht zum ersten Mal in der 133-jährigen Turniergeschichte gar kein Engländer in den Wettbewerb – ein historisches Desaster, das schon zu lauten Klageliedern in der Hauptstadtpresse führte. „Ein Dokument des Grauens“ nannte der „Independent“ das Auslosungspapier für den Herrenwettbewerb. Auch in der Damenkonkurrenz qualifizierten sich nur Britinnen per Leistung für ihren Start, vier Spielerinnen erhielten Wild Cards.

England gebietet über den größten Tennis-Klassiker, über eine sportliche Marke, die für Unverwechselbarkeit und Traditionsbewahrung selbst in der hektischen Moderne steht, über eine Millionenquelle, die jährlich Gewinne bis zu 40 Millionen Euro produziert. Doch große lokale Helden hat Wimbledon nicht mehr geboren, nicht seit den Sommertagen des Jahres 1977, als die Südengländerin Virginia Wade zum Titel stürmte und den Pokal aus den Händen der Queen empfing.

Unglaublich, aber wahr: Obwohl die Lawn Tennis Association jährlich um die 20 Millionen Euro von den Wimbledon-Machern aufs Konto überwiesen bekommt, fehlt bis heute eine taugliche Infrastruktur, um Champions zu produzieren. Der Schotte Andy Murray ist über die letzten Jahre stets der einzige männliche oder weibliche Starter des Vereinigten Königreichs gewesen, der internationale Relevanz besaß. Aber so richtig ins Herz geschlossen wurde der immer etwas distanziert wirkende Bursche aus Dunblane nicht von den Engländern, zumal nach manch befremdlichen Äußerungen wie der von 2006, er freue sich mit jedem, „der England bei der WM schlägt.“

Der große Rest der heimischen Wimbledon-Starter verdankte sein Wimbledon-Mitwirken ohnehin der traditionellen Alimentierung des All England Club – den Wild Cards, die trotz bissiger Kritik der Londoner Presse an die „Versager“ und „Faulpelze“ ausgeschüttet werden. Erst in diesem Jahr wich das sportliche Komitee des Clubs von dieser Großzügigkeitsgeste ab – ganz einfach, weil es nie eine angemessene Gegenleistung der heimischen Starter gegeben hatte.

Erst jüngst, als bei den French Open wieder einmal Spieler aus aller Herren Länder in die dramatische Phase des Turniers vorgestoßen waren, rechneten die Boulevardblätter mal wieder Aufwand und Ertrag gegeneinander: 20 Millionen Euro in Britannien gegen ein paar tausend Euros, die kleinere Tennisverbände auch im Osten Europas jährlich vom Staat als Förderung bekommen. Bei der Analyse der Misere springt vor allem ein Punkt ins Auge: Während selbst in Deutschland, dem konjunkturell abgeschmierten Tennisland, noch immer anderthalb Millionen Menschen in Klubs spielen, hat der britische Verband nur rund 60.000 Mitglieder. „Tennis wird bei uns kaum als Wettkampfsport gespielt“, sagt der ehemalige Davis Cup-Chef John Lloyd frustriert, „Tennis findet abseits der Clubs und eher als Freizeitvergnügen statt.“(Foto: J. Hasenkopf)

von tennisnet.com

Sonntag
20.06.2010, 11:57 Uhr