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Rafael Nadals Triumph in Melbourne - Ein Märchen in fünf Akten

Wie Rafael Nadal sich zum Tenniskönig krönte - und warum Tennis überhaupt der schönste Sport der Welt ist.

von Marcel Winter
zuletzt bearbeitet: 07.02.2022, 12:53 Uhr

Rafael Nadal ist immer für ein großes Schauspiel gut
© Getty Images
Rafael Nadal ist immer für ein großes Schauspiel gut

Tennis ist der schönste Sport der Welt. Er vereint Ästhetik und Eleganz mit körperlichen Höchstleistungen und unbedingter Willensbereitschaft. Der Tennisspieler stößt während eines Matches in menschliche Grenzbereiche vor und erfährt das Drama des Seins in all seinen Akten am eigenen Leib. Ein Tennismatch ist ein großes Schauspiel, das das ganze Leben widerspiegelt: Der Tennisspieler durchlebt während eines Matches Hochs und Tiefs, Leid und Freude, er muss physisch topfit sein und mental stark. Er muss fähig sein, sich über Stunden hinweg fokussieren zu können. Er muss bereit sein, sein Herz auf dem Platz zu lassen und über sich hinauszuwachsen. Er muss alles geben und den Willen zum Sieg in sich tragen. Nur so kann der Tennisspieler auf dem Platz reüssieren.

Am 30. Januar 2022 ereignete sich ein solches Tennisschauspiel Shakespeare´schen Ausmaßes. Im Finale der Australian Open, die seit vielen Jahren in Melbourne auf Hartplatz stattfinden, standen sich der 25-jährige Russe Daniil Medvedev, der vergangenes Jahr in New York bei den US Open mit dem Triumph über den Weltranglistenersten Novak Djokovic sein erstes Major-Turnier gewonnen hatte, und Rafael Nadal gegenüber, der 13-malige Sieger von Roland Garros, inzwischen 35 Jahre alt und längst eine lebende Legende. 2005 hatte Nadal seinen ersten Major-Titel errungen, damals in Paris im Finale gegen den Argentinier Mariano Puerta. 19 weitere waren hinzugekommen, sodass der „Stier von Manacor“, wie Rafael Nadal genannt wird, gemeinsam mit Roger Federer, der verletzungsbedingt nicht an den Australian Open teilnahm, und Novak Djokovic, der das erste große Turnier des Jahres verpasste, weil er sich weigerte, sich impfen zu lassen, die meisten Major-Siege errungen hat. Mit einem Sieg bei den Australian Open 2022 würde Nadal seine beiden langjährigen Konkurrenten überflügeln und wäre fortan der Spieler mit den meisten Siegen bei den Major-Turnieren.

Die Ausgangsposition vor dem Finale war also klar und man wusste, dass dieser 30. Januar 2022 ein Tag werden könnte, der in die Annalen des Tennissports eingehen könnte. Es war ein Tag, an dem Geschichte geschrieben werden konnte.

Nadal bemüht sich um Variabilität

Die Rod Laver Arena, in der das Finale stattfand, war trotz der pandemischen Lage sehr gut besetzt, die Spannung, die in der Luft lag, war mit den Händen zu greifen. Man hatte im Vorfeld ein enges, dramatisches Match erwartet. Die Buchmacher sahen Medvedev, der sich im vergangenen Jahr sukzessive verbessert hatte und mittlerweile auf Position 2 der Weltrangliste stand, leicht vorne. Der Russe hatte im Halbfinale seinen großen Widersacher Stefanos Tsitsipas souverän in vier Sätzen besiegt, während sich Nadal gegen den Italiener Matteo Berrettini ebenfalls in vier Sätzen durchgesetzt hatte. Nun kam es also zum großen Showdown.

Von Anfang an bemüht sich Nadal, variabel zu spielen, um keinen Rhythmus beim Gegner aufkommen zu lassen. Er zieht überraschend selten seine doppelhändige Rückhand durch, streut stattdessen häufige Slicebälle ein, offenkundig mit dem Ziel, das Tempo des Spiels zu variieren. Seine Vorhand, eine der gefürchtetsten auf der gesamten Tennistour, weil sie mit enorm viel Spin geschlagen wird (Nadals Vorhand hat im Durchschnitt eine Spinrate von 3200 Umdrehungen pro Minute, was kein anderer Spieler erreicht), kommt zu selten ins Feld, die Fehlerquote ist zu hoch. Medvedev hingegen spielt seelenruhig, macht kaum Fehler und sichert sich souverän den ersten Satz mit 6:2. Im zweiten Satz liegt Nadal zweimal mit einem Break vorne, müsste also nur noch ausservieren, um den Satz zu gewinnen und auf 1:1 zu stellen, vermag es aber nicht, den Vorsprung ins Ziel zu bekommen. Die Aufschlagspiele sind umkämpft, dauern nicht selten über sieben, acht Minuten. Medvedev bleibt seinem Spiel treu, agiert von der Grundlinie aus wie eine Ballmaschine, die getaktet ist wie ein Schweizer Uhrwerk. Der russische Schlaks, der fast zwei Meter misst, erläuft nahezu jeden Ball und hält ihn im Spiel. Seine Spielweise ist zermürbend. Er kämpft sich zurück und erzwingt schließlich die Entscheidung im Tiebreak, den er mit 7:5 gewinnt.

Medvedev beginnt zu hadern

Wäre ein Best-of-5-Match eine aristotelische Tragödie, würde nun der Höhe- und Wendepunkt bevorstehen. Satz drei bringt eine Entscheidung, so oder so. Gewinnt Medvedev auch den dritten Satz, ist das Match zu Ende und er gewinnt seinen zweiten Major-Titel. Es sieht vorerst so aus, als würde Medvedev in der Tat das Match frühzeitig für sich entscheiden können. Er liegt im dritten Satz mit 3:2 und 40:0 bei Aufschlag Nadal vorne. Ein Break zu diesem Zeitpunkt würde eine Vorentscheidung bedeuten. Medvedev aber lässt die sich ihm bietenden Chancen aus. Er vergibt die Breakmöglichkeiten und kassiert das 3:3. Nadal wird von Sekunde zu Sekunde stärker, sicherer, macht nun wesentlich weniger Fehler als noch in den ersten beiden Sätzen. Seine Vorhand ist zurück, die gefürchtete Vorhand, auf die Nadal das Lasso in der Luft folgen lässt. Ihm gelingt in dieser Phase etwas, was sich für das weitere Match als höchst wichtig herausstellen sollte: er emotionalisiert das Publikum, nimmt es mit, zeigt selbst Emotionen. Er ist im Finale endgültig angekommen, bereit, über alle Grenzen zu gehen, um Historisches zu schaffen. Medvedev fängt an zu hadern, legt sich mit den Zuschauern, dem Schiedsrichter und den Ballkindern an. Vielleicht spürt er, dass ihm etwas zu entgleiten droht, was er so lange unter Kontrolle hatte. Er hat Nadal im dritten Satz nichts mehr entgegenzusetzen – mit 6:4 geht der Satz an den Spanier.

Der vierte Akt ist im Drama das retardierende Moment, d.h. die Handlung wird ein wenig verzögert, ehe sie sich im fünften Akt endgültig entlädt. Die Dramaturgie des Finals folgt der Dramaturgie des klassischen Dramas. Nadal diktiert nun das Geschehen, hat die Fehlerquote aus den ersten beiden Sätzen minimiert. Er wirkt mental und physisch frischer als zuvor und das Publikum peitscht ihn unermüdlich nach vorne, bejubelt frenetisch jeden gewonnenen Punkt und honoriert seinen aufopferungsvollen Kampf. Medvedev hat seine Sicherheit verloren, die körperliche Frische eingebüßt. Er trifft unglückliche Entscheidungen, spielt ohne Not Stopps, verlegt einfachste Bälle. Nadal gewinnt folgerichtig den vierten Satz mit 6:4. Das Drama steuert seinem Höhepunkt entgegen. Das berühmte Momentum, von dem im Sport so oft die Rede ist, hat nun Nadal, der dem Spiel seinen Stempel aufgedrückt hat. 13 Jahre nach seinem ersten (und einzigen) Triumph in Down Under, damals im Finale gegen den Schweizer Ausnahmespieler Roger Federer, steht Nadal vor seinem zweiten Titelgewinn, und, was viel wichtiger ist, vor dem 21. Major-Titel überhaupt.

Zeit, Geschichte zu schreiben.

Stauen über die Physis

Beim Stand von 2:2 gelingt Nadal mit einer krachenden Vorhand longline in die Rückhandecke Medvedevs das Break. Gespielt sind zu diesem Zeitpunkt 4:40 Stunden und als Amateurspieler reibt man sich verwundert die Augen über die Physis der beiden Sportler auf dem Court. Wer selbst einmal auf dem Tennisplatz gestanden hat, weiß, dass man nach rund 2 Stunden in den Reservebereich kommt, in dem die letzten Kräfte mobilisiert werden müssen und der Wille über die körperlichen Defizite triumphieren muss. 13:38 Minuten dauert das sechste Spiel im fünften Satz, das Nadal schließlich für sich entscheidet. Er bestätigt das zuvor errungene Break, gleichbedeutend mit der 4:2-Führung. Wäre der Tennissport ein Marathon (und manchmal fühlt es sich so an), so hätten wir nun die 42 Kilometermarke erreicht. Die Spannung ist kaum mehr auszuhalten. Die endgültige Entscheidung steht unmittelbar bevor. Das Brutale, Erbarmungslose im Tennis ist, dass es kein Unentschieden gibt; man gewinnt oder man verliert. Anders als im Fußball muss es einen Sieger und einen Verlierer geben. Nadal führt mit 5:4 und serviert zum Matchgewinn. Beim Stand von 15:0 spielt er eine krachende Vorhand in die Vorhandseite Medvedevs, rückt ans Netz vor und setzt den Volley cross ins Feld zum 30:0. Zwei Punkte fehlen ihm noch zum 21. Titel. Aber Medvedev kommt zurück: Nadal serviert einen Doppelfehler zum 30:30.

Es ist ein Uhr Ortszeit in Melbourne, 31. Januar nun, 15 Uhr deutscher Zeit. 5:13 Stunden steht mittlerweile auf der Anzeigetafel. Jeder der Anwesenden im weiten Rund weiß, dass er einem historischen Match beiwohnt, unabhängig vom Ausgang. Gibt es noch einmal die Wende? Medvedev holt sich den Breakball und das 5:5. Eine mentale und physische Ausnahmeleistung! Und Nadal? Was geht in diesem Moment in seinem Kopf vor? Zwei Punkte fehlten ihm zum Matchgewinn. Medvedev serviert, aber Nadal ist da, ist hellwach, erspielt sich drei Breakbälle und nutzt schließlich den dritten nach einem einfachen Vorhandfehler von Medvedev. Zum zweiten Mal serviert er nun zum Gewinn des Matches. Nach exakt 5:24 Stunden erspielt sich Nadal mit einem Ass drei Matchbälle. Ein Punkt noch und er ist der erfolgreichste Tennisspieler aller Zeiten. Niemanden hält es mehr auf den Sitzen. Und dieses Mal zeigt sich Nadal nervenstark: Eine krachende Vorhand treibt Medvedev aus dem Feld, Nadal rückt ans Netz vor und spielt einen Volley, den Medvedev nicht mehr übers Netz bringt. Es ist vollbracht. Das zweitlängste Grand Slam-Finale aller Zeiten (das längste bestritten 2012 an selber Stelle Djokovic und Nadal, mit dem besseren Ende für den Serben) hat einen Sieger gefunden, und er heißt Rafael Nadal, der damit seinen 21. Major-Titel gewinnt. History has been made.

Bresnik - Tennis ist ein Labor unserer Gesellschaft

Es sind genau diese Momente, die den Tennissport so faszinierend machen. In fünfeinhalb Stunden wird ein ganzes Leben durchlebt, mit all seinen Ups und Downs, den freudigen Momenten und den tieftraurigen, frustrierenden. Tennis auf Weltklasse-Niveau ist eine Miniatur des Lebens, ein großes Schauspiel. Nach zwei Sätzen war Daniil Medvedev der ungekrönte König, aber gekrönt wurde am Ende Rafael Nadal. Was mussten die Spieler nicht alles durchleiden! Nadal agierte, starb, auferstand und reüssierte, die Grenzen des menschlich Machbaren überschreitend.

Tennis in all seinen Facetten ist ein hochkomplexer Sport. Es ist ein subtiles Zusammenwirken unterschiedlichster Parameter: die körperliche Fitness, die gerade bei Profisportlern in den letzten Jahrzehnten ein Maß erreicht hat, das kaum mehr zu fassen ist, die Vermessung des Platzes (Tennis ist wie Schach, nur ohne Würfel!), die mentale Frische, derer es bedarf, um erfolgreich sein zu können, die Konzentrationsfähigkeit, die über Stunden aufrechterhalten werden muss, sowie der unbedingte Wille zum Sieg, ohne den kein Erfolg möglich ist. All diese Komponenten des Tennisspiels müssen zusammentreffen. Günter Bresnik, der ehemalige Coach von Dominic Thiem und jetziger Betreuer von Gael Monfils, hat einmal geschrieben, dass professionelles Tennis auf Weltklasse-Niveau ein faszinierendes Labor unserer Gesellschaft sei. Es zeige, was der Mensch mit Eigenverantwortung, Durchsetzungskraft und Leistungsbereitschaft zu erreichen imstande sei. Recht hat er.

Vielleicht wirkt Tennis auf den Geistesmenschen auch deswegen so faszinierend, weil es selbst in der Sphäre der Kunst verortet werden kann. Es gibt Schläge, die so schön sind wie eine Symphonie von Brahms oder Zeilen von Rilke. Die einhändige Rückhand etwa eines Stan Wawrinka oder Denis Shapovalov sind von vollkommener Schönheit. Wie der Körper sich streckt, um dann eine donnernde Rückhand, einhändig gespielt, die Linie entlang zu jagen. Das ist pure Poesie. Der vielleicht vollendete Ästhet in der Geschichte des Tennissports ist Roger Federer. Er hat in seinen besten Zeiten das Tennis auf eine neue, künstlerische Ebene befördert. Aber nicht nur die Ästhetik verortet Tennis im Bereich des Künstlerischen, das Spiel selbst, ich habe es schon angedeutet, ist ein 5-aktiges Drama. Der erste Satz stellt uns die beiden Kontrahenten vor. Wir sehen, welche Taktik sie verfolgen, welche Schläge sie präferieren und welche Schwachstellen sie haben.

Menschen, nicht Maschinen

Der erste Satz ist häufig ein Abtasten, ein erstes Kennenlernen, ein sich Gewöhnen an die Umgebung, eben eine Exposition. Der zweite Satz verfestigt die Eindrücke aus dem ersten Satz oder hält erste Wendungen bereit. Geht ein Spieler, wie beim Endspiel der Australian Open, mit 2:0-Sätzen in Führung, ist der Höhepunkt schon nah, denn der dritte Satz, im klassischen Drama der Höhe- und Wendepunkt zugleich, die Peripetie, könnte die Entscheidung bringen oder aber die Wendung. Es gilt, fokussiert zu bleiben, die Kräfte zu bündeln, bei sich und seinem Spiel zu sein, Ablenkungen auszublenden, störende Gedanken loszuwerden. Die gesamte Konzentration muss dem Spiel gewidmet werden. Der vierte Satz ist dann ein Vorspiel nur für die ultimative Zuspitzung im fünften Satz, das retardierende Moment. Der Körper ist nach all den Strapazen schon so geschunden, dass die Willensanstrengung, der unbedingte Wille nun das Wichtigste ist. Der Spieler muss bereit sein, über die körperlichen Grenzen zu gehen. Gerade wenn man bedenkt, dass die Spieler im fünften Satz in der Regel schon mehrere Stunden auf dem Court sind, ist es absolut bewundernswert, mit welcher Präzision sie nach wie vor agieren. Man muss sich, wenn man wie gebannt vor dem Fernsehbildschirm sitzt, immer wieder klar machen, dass man es mit Menschen und nicht mit Maschinen zu tun hat.

Ich sprach davon, dass der Tennissport in den letzten Jahrzehnten eine große Entwicklung genommen hat – hin zu mehr Athletik, zu mehr Professionalität, zu mehr Power auf dem Platz. Das Serve-and-Volley-Spiel, das vor allem auf schnellen Belägen beliebt war, ist fast gänzlich verschwunden, lange Grundlinienduelle dominieren mittlerweile das Geschehen auf dem Platz. Bei absoluten Topspielern wie Djokovic, Federer oder Nadal, die mit ihren Erfolgen inspirierend für viele junge Spieler wirkten und zu globalen Superstars wurden, ist nichts dem Zufall überlassen. Ein ganzer Tross an Experten steht ihnen zur Seite: Athletik- und Fitnesstrainer, Taktiktrainer, Psychologen, Physiotherapeuten, Videoanalysten, Ernährungs – und Medienberater, Bespanner und viele mehr. Nie war der Tennissport professioneller als heutzutage. Mithilfe digitaler Tools versucht man, jedes Detail zu erfassen und auszuwerten. Was könnte am Bewegungsablauf verbessert werden? Wie sieht der Ernährungsplan aus? Wie ist es um die mentale Verfassung des Spielers bestellt? Der Spieler wird vollumfänglich vermessen, um das Maximum aus ihm herauszuholen. Erfolg wird planbar und der Zufall ist ein Teufel, den man meiden will. So funktioniert modernes, professionelles Tennis.

Aber all die Entwicklungen, die beeindruckend wie auch ein wenig beängstigend sind, sind sekundär, wenn die modernen Gladiatoren, und nichts anderes stellen Tennisspieler dar, den Court betreten. Dann beginnt es, das große Schauspiel des Seins, das für den einen Triumph, für den anderen Niederlage bedeutet. Wie an jenem historischen Tag im Januar 2022, an dem Rafael Nadal Geschichte schrieb.

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von Marcel Winter

Montag
07.02.2022, 15:50 Uhr
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