ATP: Diese Spieler machen zu wenig aus ihrem Talent

Die Redakteure von tennisnet.com haben diejenigen Spieler herausgepickt, die unserer Meinung nach bislang zu wenig aus ihrem Potential herausgeholt haben.

von der gesamten Redaktion
zuletzt bearbeitet: 28.09.2021, 22:10 Uhr

© Getty Images
Was könnte Nick Kyrgios alles erreichen, würde seine innere Einstellung auf den Erfolg fokussiert sein.

Immer wieder hoch gelobt und besungen, aber am Ende doch nicht ganz das erreicht, was sie in sich gehabt haben - viele Tennisspieler können die in sie gesetzte Erwartungen von Fans, Trainern oder Experten nicht erfüllen. Die Gründe dafür sind oft vielfältig, manchmal nicht wirklich greifbar. Neben körperlichen Problemen macht meist die Psyche und die innere Einstellung der großen Karriere einen Strich durch die Rechnung. Wir haben uns im Redaktionsteam Gedanken darüber gemacht, welche Spieler unserer Meinung nach ihr Potential bisher nicht vollkommen ausschöpfen konnten, wer klar hinter unseren Prognosen geblieben ist und welche Gründe dafür Verantwortlich sein könnten. Die Liste ist völlig subjektiv und selbstverständlich erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Los geht's:

Grigor Dimitrov: Dimitrov war bereits die Nummer 3 der Welt, hat die ATP Finals gewonnen – es ist also schwierig zu behaupten, dass er nicht genug erreicht hätte. Man hatte halt mehr erwartet. Und tut es (teils) immer noch: Dimitrov hat alles, was es braucht, um dauerhaft oben mitzuspielen: eine traumhafte Technik, keine wirkliche Schwäche, wahnsinnige Athletik… und doch stehen „nur“ drei Halbfinals bei Grand-Slam-Turnieren in seiner Erfolgsstatistik. Dimitrov und seine Altersgenossen um Raonic, Nishikori und Co. werden ja oft als „lost generation“ bezeichnet, sie standen oft im Schatten der „Big Three“. Dimitrov vor allem musste sich immer Vergleiche mit Roger Federer anhören, weil seine Technik der des Maestros so ähnlich ist. 2017, so schien es, hatte er sich freigespielt, die Jahre danach waren doch wieder enttäuschend. Ich würde mich freuen, wenn er in 2022 noch mal ganz oben angreift. (Florian Goosmann)

Philipp Kohlschreiber: Der beste Spieler der letzten eineinhalb Jahrzehnte auf der ATP-Tour mit Betonung auf „Spieler“ war (Roger Federer selbstredend ausgenommen)? Na? Richtig: Philipp Kohlschreiber. Kohli kann und konnte alles. Jede Variation des Topspins und Unterschnitts, den Schuss die Linie entlang, den gepflegten Stopp, ja, einmal hat er bis zum Viertelfinale sogar die Ass-Statistik in Wimbledon angeführt. Philipp hat alle ihm wichtigen Events gewonnen: München gleich drei Mal, Kitzbühel zu zwei Anlässen, auch in Halle war er erfolgreich. Gut, Heimsiege in Stuttgart und Hamburg wären ihm sicher auch willkommen gewesen, aber die Bilanz ist mit acht Turniersiegen eigentlich wunderbar. Allerdings hätte sie noch besser sein können. Vielleicht sogar müssen? Denn bei den 1000ern oder den Majors war in der Regel oft zu früh Schluss für einen Mann mit Kohlschreibers Fähigkeiten. Das Viertelfinale in Wimbledon 2012 war der einzige Auftritt unter den letzten acht. Weil, und das ist nun eine wilde Vermutung, Kohli oft selbst nicht an noch Größeres geglaubt hat. Bestes Beispiel dafür: Bei den US Open 2018 hat Philipp Kohlschreiber in der dritten Runde mit einer brillanten Vorstellung Alexander Zverev besiegt. In Aussicht auf seinen nächsten Gegner, Kei Nishikori, ist Kohli aber defensiv geworden. So hat er dann gegen den Japaner auch gespielt. Und natürlich verloren. Die gute Nachricht: Philipp Kohlschreiber ist mit sich absolut im Reinen, spielt in letzter Zeit wieder mit großer Freude Tennis. Und darf natürlich zufrieden auf seine sanft ausklingende Karriere zurückblicken. (Jens Huiber)

Nick Kyrgios: Nun gut. Dass Nick Kyrgios in dieser Liste nicht fehlen darf, liegt auf der Hand. Bei keinem Spieler liegen Genie und Wahnsinn so knapp beieinander wie beim 26-jährigen Australier. Schon seit seinen Anfangsjahren auf der Tour ist klar, dass Kyrgios an guten Tagen für jeden Gegner der Welt eine Gefahr darstellt. Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer – selbst die vermutlich drei besten Tennisspieler aller Zeiten zogen im ersten Vergleich mit dem Mann aus Canberra den Kürzeren. Kyrgios weiß die Fans – vorausgesetzt, er hat Lust – mit brachialen Aufschlägen, sensationellen Vorhandschüssen und einzigartigen Trick-Shots auf unnachahmliche Art und Weise zu begeistern. Klar ist aber auch, dass der Australier aus seinem riesengroßen Talent bislang zu wenig machte. Nach wie vor wartet Kyrgios sowohl auf seinen ersten ATP-Masters-1000-Titel als auch auf einen Halbfinaleinzug bei einem Major-Turnier. Ob Kyrgios im Alter von 26 Jahren noch einmal die Kurve kratzt, darf indes zumindest angezweifelt werden: Zuletzt spielte der Australier immer wieder mit Rücktrittsgedanken. Es wäre zumindest aus unterhaltungstechnischer Sicht ein Riesenverlust für den Tennissport. (Nikolaus Fink)

Bernard Tomic: Dieser Artikel würde wohl den ohnehin durchaus weit anberaumten Rahmen sprengen, würden wir uns im Detail mit der offenbar mehr als schwierigen familiären Situation von Bernard Tomic auseinandersetzen. Nur soviel - wenn der eigene Vater (und Coach) mit einer Luftdruckpistole auf einen schießt oder Faustschläge ins Gesicht verteilt, wenn er mit der Trainingsleistung des Nachwuchses nicht zufrieden ist, liegt die Vermutung nahe, dass Sicherheit, Geborgenheit und innere Ausgeglichenheit keine täglichen Karrierebegleiter des einstigen Wunderkinds sein dürften. Tomic galt Anfang der 10er-Jahre als absolutes Toptalent, stand mit zarten 18 Jahren im Viertelfinale von Wimbledon (bis heute sein bestes Ergebnis bei einem Grand-Slam-Turnier). Als Junior hatte er gar die Major-Events in Australien (2008) und den USA (2009) für sich entschieden. Es folgten durchwachsene Jahre, die immer wieder kleinere Erfolge, wie seine ersten drei 250er-Titel in Sydney und Bogota, zeitigten, allerdings mindestens genauso viele peinliche Rückschläge für den Australier parat hatten. Vorwiegend beherrschten Skandale und Skandälchen die Berichterstattung über den Mann aus „Down under“ - Erpressungen, Strafzahlungen, Alkoholeskapaden und im letzten Jahr auch Lügen bezüglich einer potentiellen COVID-19-Erkrankung inklusive. Und diese werden in Wahrheit auch das sein, was von der Karriere des Bernard Tomics im allgemeinen Tennisgedächtnis übrigbleiben wird, sollte der mittlerweile 28-Jährige dereinst seinen Schläger endgültig an die Wand tackern. Eine traurige Warnung davor, wie psychische Wunden und Narben ein einst noch so hochgepriesenes Supertalent in den Abgrund reißen können. Tomic liegt aktuell im ATP-Ranking auf Platz 261. (Stefan Bergmann)

Denis Shapovalov: Ein Spieler, den man in dieser Liste wohl so nicht vermuten würde, dessen Nennung aber doch seine Berechtigung hat. Wir erinnern uns zurück: Bereits 2017, damals als 19-Jähriger, sorgte der Kanadier für ein kräftiges Ausrufezeichen, besiegte beim Heimturnier in Montreal den damaligen Weltranglistenersten Rafael Nadal, schaffte wie aus dem Nichts den Einzug in die Vorschlussrunde. Seither erspielte sich Shapovalov - ausgestattet mit einer herrlichen Vorhand, starkem Aufschlag und einer Rückhand, die einen in den - zugegeben aufregenden - Zustand der permanenten Gleichzeitigkeit von Ekstase und Verzweiflung versetzt - zwar einen gefestigten Platz unter den besten 20 Tennisspielern des Globus. Aber eben nicht mehr. Das Semifinale von Wimbledon 2021 zeigte einmal mehr, zu was der quirlige Kanadier fähig ist. Es zeigte jedoch gleichwohl, dass Shapovalov einen permanenten Drahtseilakt zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen herrlichem Winner und fürchterlich überdrehtem Fehler abliefert. Ein Drahtseilakt, auf dem der 22-Jährige bislang noch nicht zur konstanten Balance gefunden hat. Und diese braucht es nunmal, damit der Weltranglistenzehnte sein volles Potential ausschöpfen kann. (Michael Rothschädl)

So und nun seid ihr gefragt: Wer sind Eurer Meinung nach die Spieler, die am wenigsten aus ihrem Talent machen? Schreibt es uns auf facebook in die Kommentare. Wir freuen uns auf spannende Diskussionen!

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