ATP Finals: Daniil Medvedev - Der Erbe der Großen Drei
Daniil Medvedev steht nach seinem knappen Erfolg gegen Alexander Zverev bereits sicher im Halbfinale der ATP Finals in Turin. Die Konstanz des Russen ist beeindruckend.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
18.11.2021, 09:22 Uhr

Große Lobgesänge sind nicht unbedingt die Sache von Jim Courier. Wenn der eloquente Amerikaner, einst die Nummer eins des Welttennis, aber auf Daniil Medvedev blickt, dann gerät er schon mal ins Schwärmen: „Er hat ein gutes Händchen. Er hat immer eine gute Strategie. Er hat kontrollierte, effektive Schläge“, sagt Beobachter Courier, „aber was Medvedev vor allem hat, das sind extrem gute Nerven.“ Der 25-jährige Russe lasse sich „praktisch nie verrückt machen“: „Er zieht sein Ding gnadenlos durch.“
In den letzten anderthalb Jahren haben das Medvedevs Spiel-Kameraden auf der globalen Tingeltour zunehmend schmerzlich zu spüren bekommen –dass der zuweilen etwas verschrobene Moskowiter sich inzwischen auf Platz 2 der Weltrangliste wiederfindet, ist keineswegs irgendwelchen Winkelzügen in der Berechnung der ATP-Hitparade geschuldet. Medvedev, der dürre Schlaks mit dem harten Punch, ist völlig verdient der erste Herausforderer des Frontmanns Djokovic – und auch sein gelegentlicher Bezwinger, wie im US Open-Endspiel im September. Gegenwärtig hat das Duell zwischen Medvedev und Djokovic das Zeug, zur gewichtigsten Rivalität im Wanderzirkus zu werden.
Auch bei der ATP-WM, dem traditionellen Schlussturnier der acht Besten, hat Medvedev bereits seine Spuren hinterlassen. Im vergangenen Jahr holte sich der Russe in einem spannungsgeladenen Finale den ersten ganz großen Titel gegen den Österreicher Dominic Thiem, und nach zwei Auftaktsiegen am neuen Austragungsort Turin ist Medvedev schon wieder auf Kurs – ein weiteres hochkarätiges Finale gegen Djokovic erscheint Experten als realistischste aller WM-Optionen.
Medvedev gegen Zverev mit fünf Siegen in Folge
Medvedev ist in umkämpften, bedrängten Lebenslagen auf dem Centre Court kaum klein zu kriegen – beim Grand-Slam-Endspielspektakel in New York spielte er gegen Djokovic und das ganze Ashe-Stadion, doch zum Schluss klaute der eiskalte Russe den Titel. Und Djokovics Lebenstraum vom Kalender-Grand Slam war geplatzt. In der Hackordnung hat Medvedev auch Distanz zwischen sich und den Mitbewerber Zverev gelegt, die letzten fünf Partien gewann Medvedev ausnahmslos.
Fast typisch war sein Sieg gegen den Hamburger am Dienstag: Medvedev legte immer dann noch an Tempo, Intensität und Präzision zu, wenn es hart auf hart ging, er ist wie die Großen der Branche ein Mann der Big Points. Im alles entscheidenden Tiebreak des dritten Satzes lag er bereits mit 2:4 zurück, ging dann aber voll ins Risiko und ging mit 8:6 erfolgreich durchs Ziel. Auch wenn es Zverev nicht hören mag und kann: Medvedev hat sich zum Angstgegner und Spielverderber entwickelt – zu einem, der noch einige Pokalträume des 24-jährigen Deutschen zerplatzen lassen kann.
Becker als Fan
Medvedev ist ein streitbarer Charakter, der sich auch gern mal mit Zuschauern, Schiedsrichtern und Gegnern anlegt. Auch im Match gegen Zverev erntete er in Turin Buhrufe, nachdem er einige abfällige Gesten in Richtung des Publikums geschickt hatte. „Langweilig wird es einem mit ihm nie“, sagt Boris Becker, ein keineswegs klammheimlicher Medvedev-Fan, „Spieler, die auch mal polarisieren, brauchen wir doch dringend im Tennis. Es gibt schon zuviel Einheitslinie heutzutage.“ Der breiteren Sportöffentlichkeit war Medvedev 2019 auch durch spektakuläre Auftritte im Big Apple bekannt geworden. Den gefürchtet rauhbeinigen Fans zeigte er damals bei den US Open grimmig den Mittelfinger, aber irgendwann im Turnierverlauf schlossen sie ihn als geliebten Bösewicht ins Herz. Erst im Finale verlor er seinerzeit gegen Nadal. Als Topspieler war er dennoch auf einmal eine feste Größe.
Seine größte Qualität neben der inzwischen ausgeprägt stabilen Psyche ist eine massive Unberechenbarkeit. Medvedev wechselt seine Strategien oft – und in Situationen, die seine Gegner stets überraschen. Aufschläge auch mal von unten, jähe Netzattacken, regelmäßige Tempowechsel sind im Standardrepertoire des fast zwei Meter großen Moskowiters. Nichts sei unmöglich bei ihm, sagt Medvedev. Nichts ist auch unmöglich für ihn. Für den Kronprinzen des Herrentennis. Für den Mann, der nach den Großen Drei zum Gipfelbewohner aufsteigen kann.