"Beckers Einfluss wird überschätzt"

Deutschland muss am Wochenende in Portugal gewinnen (beide Einzel am Freitag ab 12 Uhr im kostenlosen LIVESTREAM auf SPOX und tennisnet.com, das ganze Wochenende live auf DAZN). Wir haben uns bei den Tennis-Experten umgehört, was das Team von Michael Kohlmann zu erwarten hat.

von red
zuletzt bearbeitet: 14.09.2017, 09:55 Uhr

Boris Becker, seit Sommer 2017 Head of Men´s Tennis im DTB

Wie groß ist die Gefahr, dass Deutschland aus der Weltgruppe absteigt?

Oliver Faßnacht (DAZN/Eurosport): Wir haben vier Spieler unterschiedlicher individueller Stärke, in aktuell guter Form - Spieler, die auf ihren Einsatz brennen. Für Michael Kohlmann ergeben sich diverse taktische Aufstellungsmöglichkeiten. Unser Vorteil: Struff/Pütz . Ein erfolgreiches, eingespieltes Doppelteam - mit Titel aus Genua angereist, in der Bundesliga seit 2014 ungeschlagen.

Alexander Antonitsch (Eurosport): Naja, für mich ist mit dieser Aufstellung dieser Länderkampf völlig offen. Sousa ist ein äußert gefährlicher Spieler und ein großer Fighter. Und auch wenn Elias etwas zurück gefallen ist, ist er im Davis Cup immer für eine Überraschung gut! Bin schon gespannt, ob Yannick Hanfmann (er hat ja als einziger Sousa bisher besiegt) zum Einsatz kommt.

Jörg Allmeroth (tennisnet): Auswärtsspiele im Davis Cup sind fast immer eine Gefahr, selbst aus einer scheinbar überlegenen Position heraus. Aber die hat Deutschland hier gar nicht. Deshalb: Der Fahrstuhl kann nach unten rauschen. Hoffnung: die zuletzt gute Form von Struff und Stebe. Aber die Atmosphäre dort in Portugal wird höllisch sein.

Uwe Semrau (DAZN): Die Gefahr ist 60:40 pro Abstieg. Die Portugiesen werden den deutschen Spielern die Hölle heiß machen. Wer von den deutschen Akteuren hat schon Erfahrungen gemacht mit einem Hexenkessel auswärts? Richtig, lediglich Boris Becker...

Marcel Meinert (SKY): Das Abstiegsrisiko ist für mich höher als 50 Prozent. Schon im Vorjahr wäre man auf heimischer Asche gegen Polen fast abgestiegen. Jetzt geht es auswärts auf dem gleichen Belag gegen einen stärkeren Gegner zur Sache, während das deutsche Team nominell schwächer besetzt ist. Auf Jan-Lennard Struff lastet noch mal ein größerer Druck als im Vorjahr. Ihm wäre zu wünschen, dass er seine Leistung in einem ganz wichtigen Moment abrufen kann, ansonsten könnte es richtig eng werden.

Sind die Absagen der Top-Spieler verständlich - oder hätte man in Anbetracht der ersten Runde in Frankfurt nicht doch darauf hoffen müssen, dass Zverev/Zverev/Kohlschreiber die Niederlage gegen Belgien wieder gut machen?

Uwe Semrau (DAZN): Die Absagen sind aus meiner Sicht unverständlich. Zum einen sollte tatsächlich die eingebrockte Suppe wieder ausgelöffelt werden, und zum zweiten droht ein langer Gang in die Zweitklassigkeit. Das kann nicht im Sinne der Verweigerer sein!

Marcel Meinert (SKY): Man muss zwar jede Absage separat betrachten, aber dass eine Umstellung auf Sand für eine Woche für viele Spieler nicht wirklich sexy ist, kann man schon nachvollziehen. Allerdings ist auch niemand mehr bereit, dem Davis Cup zumindest in Teilen den eigenen Erfolg unterzuordnen. Allerdings bin ich mir sicher, dass man in einem Halbfinale eine andere Mannschaft an den Start gebracht hätte. Die Spieler scheinen aber manchmal zu vergessen, dass sie sich solche Matches erst verdienen müssen. Alexander Zverevs Absage ist zwar aufgrund der sportlichen Entwicklung verständlich, nach seiner Zusage aus dem Frühjahr aber doppelt enttäuschend. Außerdem wird damit einmal mehr die Strategie des Zverev-Managements deutlich - ihn in Deutschland als große Marke zu etablieren ist nicht die höchste Priorität. Dass Mischa Zverev der Mannschaft in Portugal hätte helfen können, darf ohnehin bezweifelt werden. Von Philipp Kohlschreiber hätte ich eigentlich erwartet, dass er spielt. So viele Gelegenheiten im Davis Cup zu glänzen wird er nicht mehr haben. Schade, dass er diese Gelegenheit, auch an seinem Renomee zu arbeiten, hat verstreichen lassen.

Jörg Allmeroth (tennisnet): Die Absagen sind bedauerlich, passen aber in die Realität dieser Tage. Es gibt ganz allgemein kaum Loyalitäten, ob nun auf persönlicher Ebene oder zu Trainern. Oder zu einem Wettbewerb/Land. Die Zverevs verstehen sich, jedenfalls in dem, was sie nach außen kommunizieren, als Global-Player-Familie. Der Davis Cup wird gespielt, wenn's mal passt. Wenn nicht, dann nicht. Laver Cup statt Davis Cup, so stehen die Dinge.

Alexander Antonitsch (Eurosport): Ja .... der Davis Cup und seine Termine. Es ist ja auch erst sehr spät klar, wo und auf welchem Belag er stattfindet. Das ist nicht planbar und so wird er immer öfter zu einem Problem für die Topspieler. Reformen wären bitter nötig, aber die ITF wartet unverständlicherweise noch immer zu. Sascha spielt noch ums Masters und damit wird seine Saison sowieso enorm lange dauern. Mischa würde zulange für die Umstellung auf Sand brauchen und wäre meiner Ansicht nach sowieso nicht erste Wahl. Kohli möchte aufgrund seiner Verletzungen die Umstellung Hartplatz, Sand, Hartplatz nicht mitmachen.

Oliver Faßnacht (DAZN/Eurosport): Ich unterscheide auch von Fall zu Fall. Mischa Zverev: gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Teamchef - sachlich, fachlich nachvollziehbar. Alexander Zverev: Eine Frage von Prioritäten, nicht von Machbarkeit. Das Team hat sich beraten, der Spieler entschieden. Es glaubt doch hoffentlich keiner, dass Alexander in der Causa Davis Cup wirklich fremdgesteuert war. Philipp Kohlschreiber: Ähnlich, wie Stan Wawrinka für die Schweiz, hat Philipp in 10 Jahren Davis Cup seine Knochen auch dann immer wieder hingehalten, wenn das körperliche Limit fast schon erreicht war. Wer seine Saison genauer betrachtet, könnte - wenn er denn wollte - die Gründe zumindest respektieren.

Boris Becker hat vor ein paar Wochen gesagt, dass er in Portugal die Krücken wegwerfen wird - um vielleicht auch selbst mit den Davis-Cup-Spielern auf den Court zu gehen. Den Top-Spielern. Wie groß ist der Anteil Beckers daran, dass die besten Deutschen nun doch nicht spielen?

Jörg Allmeroth (tennisnet): Er hat keinen Anteil daran, dass sie nicht spielen. Erstaunlich ist allerdings, dass Kohlschreiber nicht antritt. Speziell wegen des guten Verhältnisses zu Becker. Seine Absage ist ohnehin rätselhaft, sie erschließt sich mir nur im Kontext der anderen Absagen.

Oliver Faßnacht (DAZN/Eurosport): Eine Kausalität zwischen der Person Boris Becker und den Absagen der Spieler herstellen zu wollen, wäre unseriös.

Uwe Semrau (DAZN): Seine Amtszeit ist zu kurz, und sein Einfluss wird überschätzt. Punkt.

Marcel Meinert (SKY): Zumindest hat der neue "Head of Men's Tennis" sich sehr schnell hinter die Spieler gestellt und Ihnen eine Art Alibi gegeben. Es entstand durchaus der Eindruck, dass er mehr um den Einsatz der Spieler hätte kämpfen und er z.B. Zverev auf seine in München gemachte Zusage festnageln können. Überraschend war für mich außerdem die Aussage, dass der Davis Cup ihn in seiner neuen Funktion eher am Rande beschäftigt. Das hörte sich in Frankfurt noch etwas anders an. Grundsätzlich muss er aber natürlich aufpassen, es sich gerade mit einem Alexander Zverev nicht zu verscherzen. Von ihm hängen schließlich zukünftige Erfolge im Davis Cup maßgeblich ab.

Alexander Antonitsch (Eurosport): Da kann Boris ja überhaupt nichts dafür. Allerdings wird auch von den Topprofis niemand nur Boris zuliebe Davis Cup spielen. Allgemein finde ich die Verpflichtung von Boris einen Riesenerfolg für das deutsche Tennis. Ich nehme an, man wird seinen Einfluss vor allem bei den nachkommenden Junioren, bei den Sponsoren und in der Öffentlichkeitsarbeit sehen!

Dustin Brown hat die Frage an den DTB getweetet, warum er nun eigentlich gesperrt sei. Ja, warum eigentlich?

Marcel Meinert (SKY): Berechtigte Frage. Brown wollte nach einer Verletzung lieber bei einem Challenger-Turnier Spielpraxis sammeln, anstatt sich im Davis Cup möglicherweise zu blamieren und der Mannschaft zu schaden. Beim DTB fühlte man sich scheinbar im Stich gelassen. Allerdings nehme ich an, dass es zwischen beiden Parteien noch deutlich größere atmosphärische Störungen gegeben hat. Ansonsten hätte eigentlich beim DTB schon längst jemand über seinen Schatten springen müssen. Zumindest für das Doppel wäre Brown in Portugal sicher eine Alternative gewesen.

Oliver Faßnacht (DAZN/Eurosport): Jetzt geht es darum, das Team für Portugal auf jedwede Art zu unterstützen. Das wird er sicher tun. 2018 hat es Brown dann auch wieder selbst in der Hand, zum Erfolg des Teams beitragen zu können.

Uwe Semrau (DAZN): Weil beim DTB niemand über seinen eigenen Schatten springen mag. Wer wurde eigentlich beim DTB gesperrt, als das mit der Spielberechtigung für Dustin Brown verschlampt wurde? Ich kann mich nicht mehr recht erinnern...

Jörg Allmeroth (tennisnet): Brown wäre eine Alternative im Doppel gewesen, eventuell. Möglicherweise endet der Bann durch den Verband mit dem Ende dieser Saison.

Mit Dominic Thiem und Marin Cilic sind nur zwei Top-Ten-Männer in dieser Woche im Einsatz. Ein Zeichen dafür, dass sich der Wettbewerb überlebt hat?

Alexander Antonitsch (Eurosport): Ja - und wenn die Spieler jetzt gemeinsam mit der ATP den World Team Cup Neu wirklich realisieren, dann muss sich die ITF mit ihrem Davis Cup warm anziehen. Für mich ist es einfach nur unverständlich, dass die Funktionäre bei der ITF nicht auf die Spieler (auch nicht auf die Topspieler) hören und die mehr als notwendigen Reformen angehen.

Jörg Allmeroth (tennisnet): Er hat sich eigentlich nicht überlebt. Aber der Davis Cup befindet sich im Würgegriff anderer kommerzieller Interessen, siehe Laver Cup. Zudem lasten die ewigen, ungelösten Probleme auf ihm, etwa der unstrukturierte Tenniskalender, die Terminnot. Schließlich sind die teils schrecklichen Reformpläne der ITF eine latente Gefahr, vor allem Finalrunden an einem neutralen Ort.

Uwe Semrau (DAZN): Seit langem ein Zeichen dafür, wie unglücklich die Terminplanung und die nötige Harmonisierung der ITF mit der ATP in den letzten Jahren gelaufen ist. Es gibt Wochen genug im Kalender, auch für die Wettbewerbe der Teams. Oder warum tauchen plötzlich kommerziell attraktive Events am Ende der Saison auf? Inklusive der Topstars.

Oliver Faßnacht (DAZN/Eurosport): Murray, Djokovic, Wawrinka: verletzt. Nadal, Carreno Busta, Dimitrov: Spanien und Bulgarien sind nicht im Einsatz. Federer: muss mehr, denn je, auf seinen Körper achten. Zverev: siehe oben. Bleiben als noch zwei aus den Top 10, die realistisch wären... und beide sind gemeldet: Cilic und Thiem. Die Wertigkeits-Beurteilung wird mir oft zu einseitig an Weltranglisten-Platzierungen der teilnehmenden Spieler ausgerichtet. Wie können wir auf der einen Seite immer an die großen Davis-Cup-Duelle der Vergangenheit erinnern, auf der anderen Seite aber denen, die sich auf diesen ganz besonderen Moment, für ihr Land zu spielen, freuen, den Spaß durch ständige Miesmacherei verderben? Das passt nicht! Mir wird viel zu laut über die Abwesenden gesprochen... das ist respektlos den Nominierten gegenüber. Mir ist schon klar, dass die Strahlkraft auch von Stars abhängig ist - die Wettkampf-Qualität, sowie die besondere Davis-Cup-Atmosphäre, allerdings nicht.

Marcel Meinert (SKY): Ich finde den Davis Cup von seinem Modus her eigentlich immer noch faszinierend, aber unter den derartigen Voraussetzungen und mit der aktuellen Terminierung scheint er nicht zukunftsfähig zu sein. Für eine sinnvolle Reformierung müssten aber ITF, Spieler & Verbände, womöglich auch die ATP und die Turnierveranstalter ihre Ideen an einem Tisch zusammenbringen und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Davon scheint man aber ein gutes Stück entfernt. Anders sind Bemühungen in eine Wiederbelebung des World Team Cups sowie der Hype um den Laver Cup nicht erklärbar. Jeder kocht sein eigenes Süppchen.

von red

Donnerstag
14.09.2017, 09:55 Uhr