Drei praktische Wege, um im Match mental stärker zu agieren

Du bist Trainingweltmeister? Bist frustrations-intolerant? Oder machst dir als Topfavorit zu viel Druck? Unser Tennis-Insider Marco Kühn kann dir helfen!

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 30.09.2022, 13:00 Uhr

Fernando Verdasco durfte am Ende des Jahres doch noch einmal feiern
Fernando Verdasco

Während der Rahmen deines Rackets bricht, pusht sich dein Gegner auf der anderen Seite des Netzes mit einem lauten "Come on!". Das Match ist gekippt. Nach deiner schnellen 3:1-Führung spielst du jeden dritten Ball ins Aus. Das Spielfeld kommt dir kleiner als ein Schachbrett vor. Du fragst dich, welche dunklen Mächte Einfluss auf deine Grundschläge nehmen. Du kannst den Sport doch nicht innerhalb von zwölf Minuten verlernt haben?!

Dir kommt diese Szene bekannt vor? Dann lies unbedingt weiter.

#1 Das Drama des Vergleichs

Ich möchte dir die Geschichte von Steffen erzählen. Er steht bei LK 14, spielt ein technisch sauberes Tennis, ist körperlich fitter als mancher Triathlet und ist der Typ "Ich fühl` mich gut, deswegen werde ich auch gut spielen".

Als vereinsbekannter Trainingsweltmeister schießt er seinen Kollegen Fritz im Trainingsspielchen mühelos vom Platz. Selten gewinnt Fritz einen Satz. Oft geht die Partie 6:1 und 6:2 aus. Die Bilanz bei den Clubmeisterschaften führt hingegen Fritz an. In den letzten sechs Jahren schlug er Steffen bei drei Aufeinandertreffen dreimal in jeweils zwei umkämpften Sätzen.

Clubwirt Didi fragte Steffen an der Theke bei einem Bierchen, was denn da los sei im Wettkampfmatch gegen Fritz. Steffen antwortete mit hängendem Kopf und ausweichendem Blick: "Boah ey, im Training klappt alles wunderbar. Wenn ich hier aus Spaß gegen Fritz spiele, kommen die Bälle wie am Schnürchen. Aber Didi, sobald es um die Wurst geht, setzt bei mir irgendwie eine Blockade ein. Keine Ahnung, was da los ist!".

Ist Steffen im Match von einem "Clubmeisterschafts-Dämon" besessen? Nein, ein Exorzist ist nicht nötig. Steffen geht mit einer falschen Erwartungshaltung auf den Platz. Er erwartet, dass er im Match ähnlich locker durchschwingen wird wie im Training. Sein Mindset lautet: "Ich habe im letzten Training top gespielt, deswegen spiele ich auch morgen im Match top". Auf dem Court kollidieren dann seine Erwartungshaltung und die Realität.

Ein möglicher Weg, um im Match mental stärker zu agieren: Vergleiche nicht deine Trainingsleistungen mit deinen Leistungen im Match. Wenn du einen Vergleich unbedingt brauchst, dann vergleiche Training und Training sowie Match und Match miteinander.

Ein schwacher Start ins Match, nachdem du zwei Tage zuvor stark trainiert hast, kann deine mentale Gesundheit für ein ganzes Match verschlechtern. Sei darauf vorbereitet.

#2 Akzeptiere die Dynamiken eines Matches

Jürgen ist 43 Jahre jung, lernte den Tennissport als Kind von der Pieke auf und greift nun, nach 20 Jahren Studien- und Familienpause, wieder zum Racket.

Zwei Jahre ackert er nun an der Grundlinie um die alte Form, die er früher einmal auf den Court brachte. Und es läuft. Das Ranking steigt parallel zu den Vorhand-Winnern, die er in Meisterschafts- und Turnierspielen reihenweise seinen Gegnern auf zu kurze Bälle um die Ohren jagt.

Es gibt da aber eine Sache, die ihn von noch besseren Ergebnissen abhält: die Nerven. Jürgen würde sich am liebsten mit de Schläger vor das Schienbein kloppen, wenn er zwei leichte Fehler in Folge macht. Auch grandiose Punkte des Gegners fühlen sich für Jürgen an, als hätte man ihm vor Publikum die Hose herunterzogen. Ginge es nach Jürgen, dann würde er vom ersten bis zum letzten Punkt konzentriert "im Flow" spielen.

Jürgen besitzt ein falsches Mindset. Er will nicht akzeptieren, dass jedes Match Höhen und Tiefen hat - und Fehler dazugehören. Er blendet aus, dass er selbst und sein Kontrahent Schwankungen im Spiel haben werden. In seinem Kopf möchte er sich diesem Gesetz entziehen. Durch diese innere Haltung entsteht ein Frust, den er für sich nicht einordnen kann.

Ein weiterer möglicher Weg, um im Match mental stärker zu agieren: Akzeptiere die Dynamiken eines Matches. Arbeite an deiner Frustrationstoleranz.

#3 Hebe deinen Gegner nie auf ein Podest

Franziska ist 24 Jahre jung, steht bei LK 6 und ist in ihrem Verein und weit darüber hinaus für ihr kompromissloses Grundlinienspiel bekannt. Es gibt kaum einen Ball, den sie höher als vier Zentimeter über die Netzkante prügelt. Es sei denn, sie spielt einen Lob oder einen ihrer gefürchteten Kickaufschläge.

Franzi spielt gegen stärker eingestufte Spielerinnen ihr bestes Tennis. In den letzten zwei Jahren wuchs sie dabei dreimal komplett über sich hinaus. Dies ermöglichte ihr sensationelle Siege bei wichtigen Turnieren.

Es gibt da aber etwas, womit Franzi "Kopfprobleme" hat. Sie nennt es, auch um es für sich herunterzuspielen, Komplex. Immer wenn sie als große Favoritin den Court betritt, setzt etwas in ihrem Kopf ein. Sie ist nervöser, unsicherer und hat das Gefühl nur verlieren zu können. Ganz schlimm wird es, wenn die schwächere Gegnerin dann auch noch besser als gedacht spielt.

Hier erleben wir ein psychologisches Tennisphänomen. Wann immer wir gegen einen vermeintlichen Außenseiter spielen und dieser ein paar gute Schläge trifft, hieven wir diesen Underdog auf ein Podest. Wir sehen nur noch die Stärken des Gegners, während wir uns selbst schwach reden. Diese Mischung führt im schlimmsten Fall dazu, dass der Underdog über seinen Möglichkeiten spielt, während wir als Favorit kaum eine kontrollierte Kugel zwischen T- und Grundlinie bringen.

Es wird dann im Laufe des Matches kaum möglich, den Underdog wieder von seinem Podest zu kicken. Man verirrt sich in seinen eigenen, meist negativen Gedanken. Es entsteht ein Prozess, der nicht mehr aufzuhalten ist.

Damit dieser Prozess erst gar nicht Fahrt aufnimmt, ist das Zeichnen des Gegners wichtig. Viele Spieler malen einen übermächtigen Superspieler mit zwei Vorhänden und einer Quote von 100 Prozent beim ersten Aufschlag. Realistischer und vor allem effektiver ist es ein Bild mit Stärken und Schwächen zu malen. Wie kann man dies praktisch auf dem Court umsetzen? Stelle deinem Gegner Fragen.

Hier ein paar Beispiele für Fragen, die du deinem Gegner stellen kannst

1) Kannst du gut aus dem Lauf heraus spielen? Tipp: Spiele dazu bewusst mit weniger Tempo, aber etwas mehr Präzision rechts-links

2) Kannst du dich gut nach vorn bewegen? Tipp: Streue bewusst einen kurzen Slice ein und prüfe, wie sich dein Kontrahent verhält

3) Kannst du langsame Bälle ebenso gut wie schnelle Bälle beantworten? Tipp: Es ist immer einfacher einen schnellen Ball des Gegners noch schneller zu machen, als einen langsamen Ball zu beschleunigen

4) Erkennst du Stoppbälle im Ansatz? Tipp: Spiele meinen Stopp, der schon gestern in der Zeitung stand, und prüfe, ob dein Gegner früh losläuft - oder nicht.

Mit diesen Fragen ist es dir möglich, ein realistisches Bild des Gegners zu zeichnen.

Was kannst du mitnehmen?

Du spielst immer zwei Spiele. Das Match während der Ballwechsel und eines zwischen den Ballwechseln. Das bedeutet für dich, dass du ebenso wie beim Spiel während der Ballwechsel auch beim Spiel zwischen den Ballwechseln Stärken, Schwächen und riesige Potentiale besitzt.

Analysiere dein Spiel zwischen den Ballwechseln und trainiere dieses mit den drei Wegen, die du in diesem Artikel kennengelernt hast.   

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von Marco Kühn

Montag
12.04.2021, 17:36 Uhr
zuletzt bearbeitet: 30.09.2022, 13:00 Uhr