"Umarm' mich, Bastard"
Die neue Nummer eins im Damentennis liebt das Rampenlicht und hat viel von ihrer Oma gelernt.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
29.01.2012, 08:33 Uhr

Von Jörg Allmeroth aus Melbourne
Kaum hatteVictoria Azarenkanach all den Siegeszeremonien in der Rod Laver Arena endlich im Spielerrestaurant ihren französischenTrainer Sam Sumykentdeckt, lieferte die neue Tenniskönigin gleich eine erlesene Kostprobe ihres hemdsärmeligen Charmes: „Na komm' und umarm' mich, du verdammter Bastard“, lächelte die junge Tenniskönigin und kündigte gleich im nächsten Atemzug „eine richtig fette Sause“ in dieser tropischen Sommernacht von Melbourne an: „Es ist Zeit, mal richtig Druck abzulassen.“
Die burschikose Weißrussin feiert die Feste gern, wie sie fallen, nicht wenigen gilt sie sogar als ultimatives „Feierbiest“ der Tennis-Entertainmentmaschine. Doch für die lange Partynacht in den Tanzclubs von Melbourne und später noch in ihrem Apartment in der City Road 180 hatte die unternehmungslustige 22-Jährige reichlich Anlass: Auf dem Centre Court der Australian Open hatte sich Azarenka im Heul- und Stöhnfinale gegen Superstar Maria Sharapova sensationelldeutlich mit 6:3 und 6:0zum ersten Grand-Slam-Titel ihrer Karriere und zugleich auf Platz eins der Weltrangliste durchgeschlagen. Nach schwierigen ersten Jahren im Erwachsenentennis, in denen sie ihren hitzigen, heißblütigen Charakter nicht in den Griff bekam und auch schon mal an einen Rücktritt aus dem Wanderzirkus dachte, wähnte sich die Powerfrau vorerst „am Ziel meiner Träume. Ich frage mich gerade: Ist das wahr oder nur ein Film?“
Azarenkas Babuschka nimmt den Druck
Azarenkas Biographie steht fast typisch für die neuen Karrieren osteuropäischer Spielerinnen, die fast ausnahmslos in Talentschmieden im Westen des Alten Kontinents oder auch in den USA ausgebildet worden sind. Genau wie Sharapova verließ die für ihre schrillen, sirenenartigen Schreie gefürchtete Weißrussin einst schon in frühen Jugendjahren ihre Heimat und siedelte sich zunächst für ein Jahr beim ehemaligen deutschen Fed-Cup-Coach Klaus Hofsäss in Marbella an. Danach, 2005, wechselte sie auf Einladung des russischen Eishockey-Legionärs Nikolai Chabibulin nach Arizona – fortan finanzierte der NHL-Torwart, ein Freund der Azarenka-Familie, für 36 Monate ein aufwändiges Lehrprogramm. „Ohne ihn wäre ich heute nicht hier, mit dem Pokal und Platz eins in der Weltrangliste“, sagte Azarenka, die am Samstag von Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko umgehend mit dem Vaterlandsorden der dritten Stufe ausgezeichnet wurde. „Verdiente Meisterin des Sports der Republik“ war sie zuvor schon gewesen.
Neben der Darmstädterin Andrea Petkovic ist Azarenka die fitteste und belastbarste Spitzenspielerin in der Weltspitze, eine herausragende Athletin, deren physische Qualitäten sich ganz besonders bei einem herausfordernden Grand-Slam-Turnier wie in Melbourne auszahlen. Kraftvolle Punches, gute Beine, schnelle Auffassungsgabe – das sind ihre Markenzeichen. „Sie ist körperlich so hart wie Stahl“, sagt die amerikanische Fed-Cup-Chefin Mary-Joe Fernandez über die 22-Jährige, „und neuerdings hat sie auch die Nerven, um große Titel zu gewinnen.“ Tatsächlich wirkte die neue Frontfrau erstmals punktgenau auf ihre Aufgaben konzentriert, wuchs mit der Größe der Herausforderungen, ganz besonders im wegweisenden Halbfinalduell mit Belgiens Tennismutter Kim Clijsters. Von den mentalen Blockaden der dunkleren Profizeiten war hier und jetzt in Melbourne nichts mehr zu sehen und zu spüren, von jenen Blackouts, die Azaranka selbst so beschreibt: „Wenn es nicht so lief, wie ich wollte, bin ich total zusammengefallen. Ich war verzweifelt über mich selbst.“ Erst lange Gespräche mit ihrer 71-jährigen Oma hätten ihr schließlich den rechten Weg gewiesen, sagt Azarenka: „Sie hat mir irgendwie den Druck von der Seele genommen. Meine Babuschka.“
Keine Scheu vor Kameras
Genau wie ihre mitteilungsfreudige Freundin Caroline Wozniacki, die sie als Nummer eins der Tennis-Hitparade ablöst, lässt Azarenka das globale Internetdorf freimütig an ihrem Leben in der Tourkarawane teilhaben – via Facebook und Twitter gibt es fast in Realzeit stets die brandneuesten Nachrichten und Nichtigkeiten oder auch mal den frischesten Branchenklatsch. In Melbourne drehte ein Kamerateam ihres Schlägersponsors einVier-Minuten-Video in Azarenkas Apartment,ein für die Generation Graf oder Navratilova ziemlich unvorstellbarer Vorgang. Ausgedehnte Shopping-Touren oder Ausflüge ins Nachtleben filmte Azarenka auch schon mal selbst - die bullige Newcomerin, die das Rampenlicht sucht und vor Kameras keinerlei Scheu hat. „Sie ist eine geborene Schauspielerin“, sagt Trainer Sumyk, „sie liebt die große Bühne. Und jetzt noch mehr, wo sie nervlich so stabil geworden ist.“
Wo die Williams-Schwestern allmählich auf die Zielgerade ihrer schillernden Laufbahn eingebogen sind und wo eine Rivalin wie Clijsters Ende 2012 das Profitennis gut sein lässt, wird Azarenka zweifelsfrei zu den bestimmenden Kräften der Zukunft gehören. Aber die Macht im Damentennis ist launisch geworden, es gibt keine Überspielerin mehr, „die alle anderen abhängt“ (Navratilova). Auch Azarenka weiß das nur zu gut: „Am Tag nach dem Sieg beginnt schon die Verteidigung von Platz eins. Und das wird schwer genug.“(Foto: Jürgen Hasenkopf)