Krawietz und Mies in London: „Jeder Tag ist noch wie ein Abenteuer“

Die deutschen Doppel-Aufsteiger Kevin Krawietz und Andreas Mies wundern sich immer noch über ihr verrücktes Jahr 2019 - und wollen ab Montag auch bei den ATP Finals für Furore sorgen.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 11.11.2019, 07:59 Uhr

Kevin Krawietz, Andreas Mies
© Getty Images
Kevin Krawietz, Andreas Mies

Selbst für die Größten der Branche ist es immer noch und immer wieder ein besonderer Moment. Der Moment, wenn sie hereinmarschieren in die Londoner O2-Arena, in den riesigen Veranstaltungspalast im Osten der Metropole. Knapp 20.000 Menschen kommen stets zur Nachmittags-Session der Tennis-Weltmeisterschaft, noch einmal knapp 20.000 dann zur Abendshow.

Alexander Zverev, der deutsche Titelverteidiger, ist schon zum dritten Mal beim stimmungsvollen Saison-Abschluss dabei, er spielt am Montagabend im Auftakt-Kracher gleich gegen Rafael Nadal, es ist ein Match, das schon Aufschluss über Zverevs Chancen für eine erfolgreiche Pokal-Mission geben könnte. Doch die eigentliche Sensation dieser WM-Auflage 2019 ist, dass Zverev nicht der einzige Deutsche in London ist. Nein, ein zweiter deutscher Solist geht nicht ins Rennen um die wertvollste Trophäe jenseits der Grand-Slam-Turniere. 

"Was ist hier eigentlich los?"

Dafür gleich zwei Artisten im Doppel, die noch vor einem Jahr nicht mal davon träumen konnten, überhaupt ein Machtfaktor im Tourgeschäft zu werden: Kevin Krawietz, ein zurückhaltender, 27-jähriger Franke, der nach starken Juniorenzeiten fast schon wieder in der Versenkung verschwunden war. Und Andreas Mies, ein aufgeweckter 29-jähriger Rheinländer, der über das US-Collegetennis spät noch den Weg ins Tourgeschäft schaffte. Vor zwölf Monaten, um diese Zeit, war ihre Saison schon beendet, bei Wettbewerben der Zweiten Liga. Und nun kämpfen sie, nach einem Katapultsprung ins Rampenlicht, um die WM-Krone – und können es trotz allem, was zuletzt schon alles mit ihnen passiert ist, nicht wirklich fassen. „Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich mich frage: Was ist hier eigentlich los“, sagt Mies, der Wortführer des Duos, „wir freuen uns mächtig auf die nächsten Tage. Bisher haben wir das nur im Fernsehen gesehen.“

Vor ein paar Wochen lenkte eine aktuelle Biographie noch einmal den Blick auf die äußerst wundersame Karriere von Miroslav Klose. Kurz vor dem Jahrhundertwechsel spielte er noch in fünftklassigen Amateurvereinen rund um Kaiserslautern, 2002 dann, eine gefühlte Winzigkeit später, stand er in der Nationalmannschaft, die das WM-Finale gegen Brasilien verlor. Bei Krawietz und Mies beschleunigte der Laufbahn-Turbo sogar auf noch höheren Touren. 2018 kannte sie praktisch niemand im großen Tennis, ab und zu spielten sie bei kleineren Tourwettbewerben, selten bei Grand Slams, meist aber bei Challenger-Turnieren. „Wir waren schlicht nicht auf dem Radar der Öffentlichkeit, wie denn auch“, sagt Krawietz, der eher stillere Zeitgenosse. Deutschland hatte ein Spitzen-Doppel damals, aber es bestand aus Tim Pütz und Jan-Lennard Struff -  das sogenannte Tim und Struffi-Duo.

"Wir kamen aus dem Nichts. Wir haben selbst mit dem Kopf geschüttelt"

Dass Krawietz und Mies jetzt bei der WM starten und in einer Woche, nach dem London-Kraftakt, auch Deutschland beim Davis Cup-Endturnier vertreten, begann in zwei legendären Pariser Wochen ím Frühling – bei den French Open. Als sie am Ende des Turniers, in magischer Synchronität, auf dem Centre Court zu Boden sanken, als erste deutsche Doppelsieger bei einem Grand Slam seit 1937, war auch die vielleicht größte deutsche Tennis-Überraschung seit dem Wimbledon-Coup von Boris Becker im Juli 1985 perfekt. Krawietz und Mies spielten mit traumwandlerischer Sicherheit, zunehmend mit dem Gefühl, „dass nichts schiefgehen kann“(Mies) – und im Endspiel waren sie wirklich in der berühmten „Zone“ angekommen, in einem Tennis-Rausch. Unaufhaltsam, unwiderstehlich, unbezwingbar. In einer schwierigen deutschen Tennis-Saison, in der Angelique Kerber und auch Alexander Zverev strauchelten, waren nun sie, die Tennis-Brüder auf dem Platz und im Geiste, die Siegertypen. Und das Phänomen der Szene. „Wir kamen aus dem Nichts. Wir haben selbst mit dem Kopf geschüttelt. Und ganz viele andere auch“, sagt Mies.

Wer so hoch fliegt wie Krawietz und Mies, kann auch tief fallen. Und eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als könnten die beiden Paarspezialisten wieder zurückfallen in der Hackordnung – auf den Level und die Bedeutung, die sie vor dem Pariser Triumph gehabt hatten. Nach den French Open folgten schwere Wochen. Erstrunden-Niederlagen, Zweifel, Beklemmungen. „Man sagt sich zwar: Es liegt alles eng zusammen, Siege und Niederlagen. Aber man fragt sich auch: War´s das schon wieder“, sagt Krawietz. Plötzlich hätten selbst die „einfachsten Sachen“ nicht geklappt“, erinnert sich Partner Mies: „Das steckst du nicht so einfach weg. Das geht dir schon an die Nieren.“ Er konnte das Ganze zwar objektiv einschätzen, mit der Feststellung, „dass uns die Gegner halt auch besser beobachtet und studiert hatten. Dass sie uns einfach viel ernster nahmen.“  Aber, so Mies, „das machte es auch nicht besser. Jedenfalls nicht zunächst.“

Dass sie es beide nicht leicht hatten über viele schwere Jahre im professionellen Tennis, half ihnen schließlich über die Krise hinweg. Sie wuchsen noch einmal mit der Herausforderung, nun der Herausforderung, ihren überfallartigen Pariser Sieg zu bestätigen, wieder in die Erfolgsspur zurückzufinden. „Die Reise ist einfach anspruchsvoller geworden. Und wir haben Lösungen gefunden, wieder voranzukommen“, sagt Mies, „wir haben uns gesagt: Wir haben die Qualität, vorne dabei zu sein. Wir dürfen nicht gleich bei Gegenwind einknicken.“ Nun sind sie in London, inzwischen beide auch in den Top Ten der Doppel-Weltrangliste. Sie sind etabliert in der Branche, ohne etabliert zu wirken. Und es im Kopf zu sein. „Jeder Tag ist noch wie ein Abenteuer“, sagt Krawietz. Wer weiß, was ihm, seinem Partner Mies und den deutschen Tennisfreunden in London blüht.

von Jörg Allmeroth

Montag
11.11.2019, 11:26 Uhr
zuletzt bearbeitet: 11.11.2019, 07:59 Uhr