Navratilovas fast perfektes Jahr 1983

Die "Grand Dame" des Damentennis gewann 1983 86 Spiele und verlor nur ein einziges Mal - im Achtelfinale der French Open.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 06.06.2013, 11:11 Uhr

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Von Christian Albrecht Barschel

Der THW Kiel hat es im Handball geschafft, die Miami Dolphins haben es im American Football erreicht. Die Rede ist von der perfekten Saison, der "Perfect Season". Die Handballer aus Kiel gewannen in der Saison 2011/2012 alle 34 Saisonspiele, die Footballer aus Miami blieben 1972/1973 in 17 Spielen inklusive des Super Bowls ungeschlagen. Solch eine perfekte Saison im Tennis hinzulegen, scheint in der heutigen Zeit ausgeschlossen. Vor 30 Jahren hätte es eine Spielerin allerdings beinahe geschafft, ein Kalenderjahr ohne Niederlage zu beenden. Martina Navratilova spielte 1983 eine fast perfekte Saison mit 86 Siegen und nur einer Niederlage. Diese Niederlage kassierte Navratilova bei den French Open, was ihr im Nachhinein auch das Erreichen des Grand Slams vermasselte.

Am 28. Mai 1983 trat Navratilova in Paris zu ihrem Achtelfinale gegen die 17-jährige US-Amerikanerin Kathleen Horvath an. Navratilova hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 36 Spiele in Folge im Jahr 1983 gewonnen und seit Beginn der Saison 1982 126 von 129 Matches für sich entschieden. Navratilova war also die haushohe Favoritin gegen ihre 17-jährige Landsmännin, die auf Platz 45 der Weltrangliste stand. Doch Horvath hatte es im Gefühl, dass sie an diesem Tag Sportgeschichte schreiben würde.

"Einer dieser perfekten Tage"

"Es war einer dieser perfekten Tage, die man an einer Hand abzählen kann. Ich wachte auf, fühlte mich großartig. Als ich begann, mich aufzuwärmen, fühlte ich mich perfekt, so dass ich den Ball auf eine Münze legen könnte", erinnert sich Horvath, die in den Wochen zuvor mit dem Finaleinzug in Berlin und dem Halbfinale in Rom geglänzt hatte und beide Male an der Sandplatzkönigin Chris Evert gescheitert war. Das Achtelfinale gegen Navratilova war das zehnte Match in elf Tagen für Horvath, die als krasse Außenseiterin ins Match gegen die Nummer eins im Damentennis ging.

Navratilova hatte die drei vorherigen Duelle mit der 17-jährigen Horvath ohne Satzverlust für sich entschieden. Dennoch warteten alle nach so vielen Siegen in Serie auf die erste Niederlage im Jahr 1983 von Navratilova, die diesen Druck auch spürte. "Ich habe gefühlt, dass ihre Nerven flattern könnten. Das hört sich schlimm an, aber jede Spielerin hat ihre Neigungen. Ich habe immer geglaubt, dass, wenn ich gut gegen Martina beginne, ich eine Chance habe, weil sie von Natur aus nicht die selbstbewusste Person war", blickt Horvath gegenüber "ESPN" zurück.

Navratilova vom Netz ferngehalten

Horvath glaubte an ihre Chance, auch vor allem deshalb, weil der Sandplatz der schwächste Belag von Navratilova war. "An diesem Tag habe ich den Ball perfekt getroffen. Ich fühlte mich selbstbewusst, dass ich sie vom Netz fernhalten könnte. Vielleicht fühlte sie sich deshalb angespannt, weil sie nicht so oft wie gewohnt ans Netz kommen konnte." Horvath gewann den ersten Satz mit 6:4. Doch dann schien alles seinen gewohnten Gang zu nehmen. Navratilova sicherte sich den zweiten Satz mit 6:0, und wohl kaum jemand außer Horvath selbst glaubte noch an die Sensation.

"Als ich den ersten Satz gewonnen hatte, habe ich gesagt, 'Okay, ich werde dieses Match gewinnen'. Dann habe ich den zweiten Satz 6:0 verloren. Ich habe zu mir selbst gesagt, 'entspanne dich und spiele so, wie du es im ersten Satz getan hast.'" Im dritten Satz war Horvath wieder voll da. Die 17-Jährige gewann beim Stand von 3:3 die nächsten drei Spiele und schaffte die große Sensation. "Ich erinnere mich an den Matchball. Ich kam ans Netz und sie schlug eine Rückhand. Aber sie war nicht in der Position, um einen Passierball zu schlagen und hat ihn verfehlt. Alles lief an diesem Tag gegen sie", erzählt Horvath, die den Sieg mit einem breitem Grinsen und für sie untypischen Daumen nach oben feierte.

Horvath geht nach Sensationssieg unter

Navratilova nahm die Niederlage sportlich hin. "Natürlich bin ich nicht glücklich darüber. Aber ich wusste, dass ich früher oder später verlieren würde. Das ist kein Desaster." Viele erwarteten nach dem Sensationssieg, dass Horvath ins Finale gegen Chris Evert einziehen würde und auch dort eine gute Siegchance haben würde. Doch es kam so, wie es oft der Fall ist nach einem herausragenden Sieg. Horvath ging im Viertelfinale gegen die Jugoslawin Mima Jausovec mit 1:6, 1:6 unter und flog sang- und klanglos aus dem Turnier. Die 17-Jährige war nach ihrem Sieg gegen Navratilova bemüht, alle Medienanfragen zu erfüllen und posierte auch für ein Fotoshooting am Eiffelturm.

"Den ganzen Tag hatte ich einen Mordsspaß. Aber in der Zwischenzeit habe ich meine Konzentration verloren und wurde unachtsam." Der Sieg gegen Navratilova markierte den größten Einzelsieg in ihrer Karriere. Ein Jahr später stand die US-Amerikanerin ein weiteres Mal im Viertelfinale der French Open, und sie schaffte es bis auf Platz zehn in der Weltrangliste. Horvath spielte noch sieben weitere Male gegen Navratilova und verlor alle Duelle. Mit 23 Jahren hatte sie schließlich genug vom Profitennis.

Kein Grand Slam und keine perfekte Saison

Für Navratilova war ihre erste Niederlage im Jahr 1983 der Startschuss zu einer neuen Siegesserie. Die "Grand Dame" des Damentennis gewann im gleichen Jahr die nächsten 50 Spiele in Folge, darunter die Grand-Slam-Turniere in Wimbledon, New York und Melbourne und beendete die Saison mit einer Bilanz von 86:1-Siegen. Horvath verhinderte rückblickend eine mögliche perfekte Saison und einen Grand Slam von Navratilova. Doch Navratilova glaubt nicht ganz daran, dass eine perfekte Saison möglich war. "Ich weiß nicht. Wenn ich nicht gegen Kathleen Horvath in diesem Jahr verloren hätte, hätte ich vielleicht gegen jemand anderen verloren. Es war erst der Mai. Man weiß, dass der Druck steigt und steigt."

Ist die 1983er-Saison von Navratilova die beste in der Tennisgeschichte? Zum Vergleich: Als Steffi Graf den Golden Slam 1988 gewann, verlor sie bei 72 Siegen insgesamt drei Spiele. Als Rod Laver 1969 den Grand Slam gewann, verlor er sogar 15 Matches. Navratilova selbst schätzt ihre Folgesaison 1984 höher ein. Dort gewann sie von Jänner bis Dezember 74 Spiele in Folge und verpasste erneut nur knapp den Grand Slam, weil sie kurz vor der Ziellinie im Halbfinale der Australian Open scheiterte und ihre zweite Saisonniederlage kassierte. (Quelle: ESPN; Foto: GEPA pictures)

von Christian Albrecht Barschel

Donnerstag
06.06.2013, 11:11 Uhr