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Niemeier-Coach Christopher Kas: "Je besser man vorbereitet ist, umso weniger Überraschungen gibt es"

Jule Niemeier (WTA-N. 97) steht beim Wimbledon-Turnier 2022 im Achtelfinale - nach tollen und kämpferischen Auftritten. Wir haben bei ihrem Coach Christopher Kas nachgefragt.

von Florian Goosmann in Wimbledon
zuletzt bearbeitet: 02.07.2022, 12:58 Uhr

Jule Niemeier
Jule Niemeier

Kasi, gegen Lesia Tsurenko hat sich Jule richtig durchgefightet. Nach dem spielerisch beeindruckenden Sieg über Anett Kontaveit ein gutes Gefühl, so ein Match auch mal „dreckig“ zu gewinnen, über den Kampf?

Total, das ist ganz hoch zu bewerten! Man konnte nicht erwarten, dass Jule direkt noch mal ein Spiel abzieht wie gegen Kontaveit – da hatte von vorne bis hinten alles gepasst. Gegen Tsurenko war es schwieriger. Es war viel los in den letzten Tagen, dazwischen hatte Jule ein langes Doppel. Und gegen Tsurenko fand ich, dass sie sensationell returniert hat./

Nach dem Sieg hast du in Jules Richtung lachend eine Slice-Bewegung vorgeführt. Weil sie beim Matchball so geduldig geslicet hat – oder war das ein Insider?

Nein, gar nicht – das war ein Zeichen der Hochachtung! Das eine ist ja, generell einen Slice zu bringen. Das andere, den in dieser Situation mit so viel Qualität zu spielen. Die Slicebälle beim Matchball, die waren technisch Weltklasse!

Jule muss ohnehin ein Traum sein als Trainer: Eine Spielerin, die so viel Potenzial hat, aber eben auch das Spiel gut liest, freiwillig ans Netz geht, wenn es die Situation hergibt.

Es macht einen Riesenspaß! Und es ist spannend. Ich bin auch gar nicht so aufgeregt, für mich war das alles irgendwie erwartbar. Wir sammeln hier so viele Erfahrungen wie möglich, werden viel lernen. Jule wird in 12 bis 18 Monaten ihr bestes Tennis zu spielen. Bis dahin wird es ein interessanter Weg. Hier in Wimbledon hat sie schon so viel mitgenommen: Sie hat auf einem großen Platz gespielt, hat die Nummer zwei des Turniers geschlagen, das Match danach gewonnen – was so schwierig ist nach so vielen Emotionen aus dem Match zuvor. Ich bin total happy.

Was heißt 12 bis 18 Monate – habt ihr so weit vorausgeplant vom Training her?

Wir haben einen Plan für die nächsten Tage, einen Plan für die nächsten Wochen und einen Plan für die nächsten Monate. Aktuell bin ich überrascht, wie gut sie manche Dinge schon umsetzt, auch unter dem Stresslevel. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, alles muss zum richtigen Zeitpunkt kommen. Es wird noch stabiler werden, sagen wir‘s so. Aber der Prozess ist super. Und es ist toll zu erleben, mit wie viel Freude sie jeden Tag zum Training kommt, mit welcher Begeisterung sie spielt und mit welcher Neugierde.

Hast du einen Vorteil, dass du Wimbledon gut kennst? Du warst im Doppel hier im Halbfinale und auch im Mixed bei den Olympischen Spielen, die hier stattgefunden haben.

(überlegt) Natürlich hilft es, einen gewissen Erfahrungsschatz zu haben. Aber was Jule im Einzel verarbeiten muss, kann man mit meinem Doppel oder Mixed damals nicht vergleichen. Ich habe eher als Coach in den letzten Jahren viele Erfahrungen gesammelt, habe von Sabine Lisicki viel gelernt, was das Rasentennis angeht. Das versuche ich weiterzugeben. Letztlich ist vieles individuell. Man muss schauen: Welche Möglichkeiten hat mein Spieler, welche Persönlichkeit?

Jule wirkt recht bedächtig, du bist sehr begeisterungsfähig – seid ihr auch deswegen eine gute Kombi?

Das müsste man Jule fragen. Eine große Begeisterungsfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung als Trainer. Man muss in der Lage sein, die Spielerin oder den Spieler mit den eigenen Ideen zu überzeugen. Es geht letztlich in beide Richtungen. Jule nimmt Dinge wunderbar auf, ich bewundere hier ihre Ruhe, ihre Souveränität. Es ist eine Interaktion, bei der man als Trainer auch versucht, seinen Spieler so gut wie möglich zu lesen. Da ist viel Gespür dabei.

Jule trifft jetzt auf die Britin Heather Watson, sie ist als Nummer 103 der Welt knapp hinter Jule platziert. Wie geht ihr da ran?

Wir bereiten uns nicht anders vor als auf eine erste Runde bei einem kleineren Turnier. Es sind die gleichen Abläufe. Wir sprechen am Abend vorher über das Match, im Warm-up noch mal im Detail. Mir ist wichtig, dass Jule sich voll einbringen kann. Man darf die Trainer nicht größer machen als sie sind. Natürlich gibt es einen Matchplan, aber am Ende steht Jule auf dem Platz.

Sollte das Spiel auf dem Centre Court stattfinden: Werdet ihr hier vorher draufgehen, die Atmosphäre aufsaugen?

Ja klar! Das haben wir auch vorm Spiel gegen Kontaveit mit Court 1 auch gemacht, haben dort am Tag vorher das Spiel von Simona Halep geschaut. Das ist völlig normal. Man schaut sich das an, versucht zu visualisieren, wie es ist, dort zu spielen. Man spricht die Szenarien durch, das gehört zur Matchvorbereitung. Aber noch mal: Wir nehmen ein Spiel beim ITF-Turnier genauso ernst wie das Achtelfinale hier in Wimbledon. Aber natürlich: Es ist eine spezielle Situation, auf einem großen Platz bei einem so großen Turnier. Man versucht letztlich, alle Eventualitäten durchzugehen.

Um die Überraschungen so gering wie möglich zu halten?

Genau. Man will bestmöglich vorbereitet sein. Im taktischen Bereich, im technischen, im körperlichen. Und ebenso im psychischen, im mentalen Bereich. Natürlich kommt die Anspannung dazu, es ist nicht einfach, auf einem so großen Platz zu spielen. Aber je besser man vorbereitet ist, desto mehr Vertrauen hat man, desto weniger Überraschungen gibt es. Umso besser kann man dann sein Tennis umsetzen.

Kasi, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute euch!

von Florian Goosmann in Wimbledon

Samstag
02.07.2022, 12:53 Uhr
zuletzt bearbeitet: 02.07.2022, 12:58 Uhr