Swiss Tennis Nationaltrainer Dieter Kindlmann - „Roger Federer zu ersetzen wird nie möglich sein“
Dieter Kindlmann arbeitet seit Sommer 2021 als Nationaltrainer für die U18 beim Schweizer Tennisverband. Wie es zu dieser Allianz gekommen ist, warum Suisse Tennis so viele Erfolge hat, und wie er die aktuelle Entwicklung auf der WTA-Tour sieht, erläutert der ehemalige ATP-Profi und Ex-Coach von etwa Madison Keys oder Maria Sharapova im Interview mit tennisnet.com.
von Jens Huiber
zuletzt bearbeitet:
18.12.2021, 18:33 Uhr

tennisnet: Herr Kindlmann. Wir erreichen Sie gerade in Ihrem Büro. Wie sieht denn Ihr typischer Tagesablauf im Dezember 2021 aus?
Dieter Kindlmann: Es ist natürlich eine Veränderung zu meinem vorherigen Ablauf. Der auch davon abhängt, wie der Stundenplan meiner Spieler ist. Manchmal trainieren wir von 08:00 Uhr bis 09:30 vor der Schule, manchmal nachmittags. Meistens trainiere ich mit den beiden Kindern, für die ich zuständig bin, zwei Mal am Tag. Daneben habe ich im großen Team von Swiss Tennis viele Besprechungen und Sitzungen. Ich muss mich um mehr kümmern als zuvor, wo ich nur einen Spieler hatte.
tennisnet: Das heißt, Sie arbeiten derzeit in Biel.
Kindlmann: Genau. Wir sind hier im Nationalen Leistungszentrum von Swiss Tennis. Das ist die Haupttrainingsstätte, an der ich tagtäglich arbeite.
tennisnet: Für welche Altersgruppen sind Sie zuständig?
Kindlmann: Ich bin Nationaltrainer für die Jungs im U18-Bereich, arbeite im Moment aber gerade mit der jüngeren Riege. Nachwuchschef bis U15 ist bei uns ja Jens Gerlach, der die Spieler hocharbeitet, die ich dann übernehme.
tennisnet: Das heißt, dass alle talentierten Jugendlichen in der Schweiz in Biel trainieren?
Kindlmann: Nein. Wir versuchen, den besten Jugendlichen in Biel ein Angebot zu geben, dass wir sie bestmöglich betreuen und auf das Leben nach dem Jugendtennis vorbereiten. Wir unterstützen aber auch dezentral trainierende Kaderathleten. Als Nationaltrainer begleite ich die Jungs auch auf internationale Turniere. Wir versuchen, so früh als möglich so professionell als möglich zu arbeiten. Nachdem wir aber eine Schulpflicht bis 16 Jahre haben, spielen mit den Jüngeren noch weniger Turniere im Ausland, sondern fokussieren uns auf diejenigen, die in der Schweiz stattfinden. Grundsätzlich ist die Schweiz ein kleines Land, das man nicht mit Deutschland vergleichen kann.
„Dominic Stricker ist das Paradebeispiel“
tennisnet: Welche Turniere bereisen Sie? Noch Jugend-Events oder schon Futures?
Kindlmann: Aktuell habe ich den U14-Europameister betreut: Nikola Josic. Mit Nikola habe ich die gesamten europäischen Turniere abgefahren. Aufgrund seiner guten Leistungen beginnen wir gerade, die U18-Turniere zu spielen. Da gibt es verschiedene Kategorien. Und nachdem er der Jüngste ist, versucht er zunächst in der untersten Kategorie Fuß zu fassen. Der Schritt ist sehr groß. Gerade im körperlichen Bereich gibt es große Unterschiede. Unser Ziel ist es aber, dass wir unsere Spieler mit 17 Jahren zu einem Jugend-Grand-Slam bringen.
tennisnet: Das hat ja erst vor kurzem ziemlich gut funktioniert, als Dominic Stricker in Roland Garros den Junioren-Titel geholt hat. Inwieweit wird jemand wie Stricker noch von Swiss Tennis unterstützt?
Kindlmann: Dominic ist das Paradebeispiel, das wir haben. Er wurde mit 14 Jahren nach Biel geholt, ist hier in die Schule gegangen, hat alle Stationen im Verband durchlaufen. Unser Ziel ist es, dass wir mehrere Strickers herausbringen könnten. Dominic ist immer noch in Biel, wird von einem Nationaltrainer betreut. Er trainiert hier, teilweise dürfen meine Jungs auch Sparringspartner von ihm sein. Er hat hier seine Homebase, vergleichbar etwa mit Spielern in Deutschland, die ihren Lebensmittelpunkt in der Tennisbase in Oberhaching haben.
„Stan Wawrinka wäre in jedem anderen Land ein Superstar“
tennisnet: Nun wird der Tennissport immer athletischer. Welche Betreuung bekommen die jungen SpielerInnen in Biel in dieser Hinsicht?
Kindlmann: Gerade was den konditionellen Bereich anbelangt, sind wir hier top aufgestellt, haben mit Beni Linder einen Mann, der sich um die gesamte physische Betreuung kümmert. Wir haben zusätzlich zwei Konditionstrainer, dazu im Tennisbereich den Head Coach Michael Lammer, der für den U23-Bereich zuständig ist.
tennisnet: Die Erfolge der Schweizer TennisspielerInnen in den letzten Jahren waren und sind legendär. Worauf lässt sich das Ihrer Meinung nach zurückführen?
Kindlmann: Man kann Roger Federer, Martina Hingis, Belinda Bencic oder Stan Wawrinka nicht miteinander vergleichen. Aber die Schweiz ist unglaublich verwöhnt, wie viel gute SpielerInnen von hier kamen. Und zwar Top-Top-Spieler, nicht bloß Top-100. Wenn Stan Wawrinka nicht im Schatten von Roger Federer wäre - in jedem anderen Land wäre er ein absoluter Superstar. Soweit ich das nach meinen sieben Monaten hier beurteilen kann, hängt der Erfolg auch damit zusammen, dass Tennis einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft hat. Es gibt eine unglaubliche Förderung und auch Begeisterung für den Sport. Das würde ich mir auch in anderen Ländern wünschen.
tennisnet: Wie gehen die Kinder mit den Erfolgen ihrer Landsleute um: eher Ansporn oder eher zu großer Erwartungsdruck?
Kindlmann: Es ist eine tolle Perspektive. Aber auch viel Druck. Wenn man vom „Next Roger“ spricht, dann ist das einfach ungerecht. Einen Roger Federer zu ersetzen, wird wohl nie möglich sein, weil er einfach eine Legende ist. Wie eine Serena Williams bei den Damen in den USA. Ich sehe aber extrem viel Potenzial durch den Olympiasieg von Belinda Bencic in Tokio. Damit ist Tennis immer im Fokus.
„Man hat immer Angst, positiv zu sein“
tennisnet: Nun stecken wir ja nach wie vor mitten in einer Pandemie. In welcher Hinsicht haben Sie diese am meisten gespürt?
Kindlmann: Wir haben es hier mit Jugendlichen zu tun, die zum Beispiel teilweise noch nicht geimpft werden konnten. Früher ist man zu einem Turnier gefahren, hat gemeldet und gefragt, wo die Trainingsplätze sind. Jetzt fragt man nach dem nächstgelegenen Testcenter. Man weiß bis zur letzten Sekunde nicht, ob ein Turnier stattfindet. Ob 2G oder 3G gilt. Es ist extrem schwierig, weil es nicht nur um Tennis geht. Man hat immer Angst, dass man positiv ist. Es ist schwierig, einen soliden Plan auf die Beine zu stellen, weil man viele Sachen nicht kontrollieren kann. Aber es ist natürlich nicht schön, wenn man im Ausland in eine Quarantäne muss. Die Wintersaison bis April 2022 wird eine große Herausforderung werden.
tennisnet: Wie kam es eigentlich zur Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Swiss Tennis?
Kindlmann: Eher zufällig. Ich bin im April eingeladen worden, mir dieses Leistungszentrum hier in Biel anzuschauen. Bei der Gelegenheit habe ich mich mit den Kollegen hier lange unterhalten. Und am Ende des Tages gab es plötzlich ein Angebot von Swiss Tennis, von dem ich total überrascht war. Bis dorthin war mein Leben immer nur die Tour. Über Verbandsstrukturen hatte ich mir damals noch keine Gedanken gemacht. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich keine Spielerin auf der Tour, habe mir alle Vorteile angeschaut - und bin jetzt sehr froh, dass ich mich für diesen Job entschieden habe.
„Ashleigh Barty muss man immer auf dem Schirm haben“
tennisnet: Die Arbeit bei einem Verband ist jedenfalls ein großer Bruch mit ihrer Tätigkeit als Tour-Coach, etwa von Madison Keys, Ajla Tomljanovic oder Angelique Kerber …
Kindlmann: Ich war in den letzten Jahren sehr enttäuscht darüber, wie es auf der Profi-Tour abläuft. Es wird nicht mehr auf Entwicklung gesetzt, sehr wenig auf Nachhaltigkeit. Das hat mir viel Kopfzerbrechen bereitet, ich hatte keine Planungssicherheit. Ich musste wegen Spielerinnen in Länder umziehen, in die ich eigentlich gar nicht wollte. Hier habe ich die Möglichkeit, endlich mal wieder mit Jungs arbeiten. Hier kann ich mithelfen, von Grund auf langfristig etwas aufzubauen. Ich arbeite vier Stunden von meiner Heimat im Allgäu entfernt, lebe in Bern, einer sehr schönen Stadt. Ich erlebe hier viele positive Dinge, die mir die Tour in den letzten Jahren nicht gegeben hat.
tennisnet: Die WTA-Tour werden Sie dennoch nicht aus dem Blick verloren haben. 2021 hat interessante Ergebnisse gebracht, vor allem in Roland Garros mit dem Sieg von Barbora Krejcikova und dann bei den US Open mit dem Triumph von Emma Raducanu. Was sehen Sie in Ihrer Glaskugel für 2022?
Kindlmann: Ich bin immer noch voll in der WTA-Szene drin, das war zehn Jahre lang mein Leben. Das Tour-Leben hatte ja auch unglaublich schöne Seiten. Zu den Aussichten: Ich wünsche Torben Beltz wirklich alles Gute, aber bei Raducanu würde es mich wundern, wenn sie wieder an Grand-Slam-Siege anknüpfen würde. Einfach aufgrund des großen Drucks der Öffentlichkeit. Jeder erwartet, dass sie vorne wegmarschiert. Das wird schwierig werden. Ich glaube, dass man Ashleigh Barty immer auf dem Schirm haben muss, auch wenn sie jetzt vier Monate lang kein Match gespielt hat. Die Qualität der Generation mit Barty oder Bencic ist rein tennismäßig ja vorhanden.
tennisnet: Kann Belinda Bencic ihren ersten Grand-Slam-Titel holen?
Kindlmann: Belinda ist immer gut aufgestellt. Sie wird älter, reifer, gefestigter. Sie ist top körperlich in Form. Olympia war ein Türöffner für sie, daran zu glauben, dass sie etwas ganz Großes gewinnen kann. Sie ist im besten Tennisalte und hat schon Misserfolge gehabt, aus denen sie gelernt hat.
tennisnet: So schön Ihre Aufgabe bei Swiss Tennis gerade ist - halten Sie eine Rückkehr zum “alten Tourleben“ für sich für möglich?
Kindlmann: Ich genieße die Arbeit im Moment sehr. Aber dass ich irgendwann mal wieder zurück auf die WTA-Tour kommen könnte, das will ich nicht ausschließen. Weil wenn es mit einer Spielerin gepasst hat, dann hat der Job auf der Tour schon auch Spaß gemacht.