US Open: Der Tempel der Träume wird zum Tempel der Stille
Was hat man nicht alles schon erlebt bei den Reisen nach New York, beim Trip mitten hinein in den ganz normalen Grand Slam-Wahnsinn der US Open. Es gab das ewige Organisationschaos, das bizarre Diktat der großen TV-Networks. Es gab Spieleraufstände, Boykottdrohungen, Rebellion gegen die armselige Funktionärstruppe.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
28.08.2020, 10:42 Uhr

Es gab Hurrikans, die während des Turniers über den Millionen-Moloch zogen und den Spielbetrieb tagelang beinahe lahm legten. Es gab das Jahr nach den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Centers, das Jahr, in dem sich die Offenen Amerikanischen Meisterschaften anfühlten wie ein Hochsicherheitstrakt, überall aufgerüstete Sicherheitskräfte, Betonsperren, Maschinenpistolen.
Und US-Marshalls, die mit finsterem Blick jeden Bus begleiteten, der den Grand Slam-Troß von den Häuserschluchten Manhattans herüber in die Vorstadtwelt von Flushing Meadow brachte. Es waren zwei Wochen im August und September 2002, in denen New York noch wie eine einzige große, offene Wunde wirkte, die Narben der unfaßbaren Anschläge waren noch längst nicht verheilt. Und man selbst hatte ein flaues, ängstliches Gefühl: Was würde heute, morgen, übermorgen passieren, würde alles ruhig bleiben?
Tennis-Palast ohne Verrücktheit
Alles haben diese Stadt und dieses Tennisturnier aber irgendwie überstanden, wieder und wieder hat man sich aufgerappelt. Mit Courage, mit Trotz, mit dem Willen, „sich einfach nicht unterkriegen zu lassen“, wie der frühere Bürgermeister Rudy Giuliani sagt, ein Mann, der New York einst mit sehr harter Hand regierte. Nun, im Jahr 2020, müssen sie in New York einen Tenniswettbewerb meistern, wie es ihn noch nie gegeben hat. Und hoffentlich auch nie wieder geben wird. Aber das weiß keiner so genau, und keiner weiß auch, wie das große Experiment eines Grand Slam in der Corona-Krise letztlich ausgehen wird.
Eins steht auf jeden Fall schon mal fest: Alles, was diesen Major-Wettbewerb in den letzten Jahrzehnten abseits der reinen Matches prägte, ob nun zum Guten wie zum Schlechten, all dies wird fehlen: Das Grelle, das Bunte, das Laute, das Spektakuläre, das Verrückte. Aufgedrehte, überhitzte, schräge Fans. Angespannte, schwer geladene Tennisprofis, im ewigen Kampf um Kontrolle und Beherrschung im allgemeinen Tumult. „Nirgendwo erscheint dir diese neue Normalität ungewöhnlicher als in New York“, sagt der US-Spitzenspieler John Isner, „du hast immer die alten Bilder vor Augen.“ Die Bilder des buchstäblich voll verrückten Tennis-Palastes in New York.
Night Sessions ohne Atmosphäre
Man erinnert sich vor der drohenden Stille und Leere der kommenden beiden Wochen unwillkürlich an die flirrenden, atmosphärisch beispiellosen Nachtshows in New York. An das Großaufgebot der Stars und Sternchen, an die Ehrenlogen, in denen halb Hollywood sich versammelte und auch ein gewisser Donald Trump viele Jahre den Schampus für seine Spezis servierte. „Trag´ ein schönes Kleid, setz´das richige Make-up auf – und schon bist du die Bombe“, hat Maria Scharapowa einmal gesagt. Es war kurz und knapp auch eine mögliche Beschreibung für das Spektakel zwischen Schein und Sein, für das Lebensgefühl der Tennis-Karawane an diesem ganz besonderen Ort.
Scharapowa, die gestrauchelte Doping-Sünderin, war kürzlich in den Ruhestand getreten, zuletzt hatte aber ohnehin Serena Williams, ihre ewige Rivalin, den großen Showpart übernommen, mit gewagten Outfits, gewaltigen Siegesserien, aber auch mit unvergeßlichen Eklats wie etwa dem Ausraster im Finale 2018. Damals beschimpfte sie den spanischen Referee Carlos Ramos als „Lügner“ und „Dieb“, kassierte Punkt- und Spielabzüge. Den 24. Grand Slam-Titel, die Einstellung des Rekordes der Australierin Margaret Court, gelang ihr an jenem Abend genau so wenig wie danach bei weiteren Finalanläufen.
Serena als Profiteurin?
Es gehört zu den Paradoxien der Corona-Pandemie, dass Serena Williams theoretisch die Profiteurin des ganzen Schlamassels sein könnte – wäre sie in guter sportlicher Verfassung. Einerseits gehört die inzwischen 38-jährige Amerikanerin ja zur Risikogruppe, sie hat schon einmal eine lebensbedrohliche Lungenembolie überstehen müssen, wurde auch schon wegen Herzproblemen behandelt. Aber nicht sie, die gefährdete Patientin vieler zurückliegender Jahre, hat ihr Mitwirken an dem ersten Grand Slam-Wettbewerb nach der Zwangspause abgesagt, sondern viele, ganz ihrer schlagkräftigen Rivalinnen.
Die Weltranglisten-Erste Ashleigh Barty aus Australien beispielsweise, die Rumänin Simona Halep. Und auch die Kanadierin Bianca Andreescu, die Williams vor zwölf Monaten in einem anderen US Open-Universum nach allen Regeln der Kunst abservierte. Auch die deutschen Altmeisterinnen Julia Görges und Andrea Petkovic bleiben diesen US Open fern, nur Angelique Kerber geht an den Start. Allerdings auch nicht mit ungeteilter Vorfreude.
Auch bei den Herren werden tragende Figuren der Tour fehlen, allen voran der verletzte Roger Federer und der am Corona-Tennis zweifelnde Rafael Nadal. Aus dem Trio der allmächtigen Giganten dieser Epoche wird ausgerechnet jener Mann mitwirken, der sich in der Krisenzeit als kontroverseste Figur entpuppt hatte -der Serbe Novak Djokovic. Bei seiner Adria-Tour im Frühling hatte man ja das Virus anscheinend schon besiegt, anders war jedenfalls der gefährliche Leichtsinn nicht zu interpretieren, der da auf Schritt und Tritt zu besichtigen war.
Turnierdirektorin warnt Spieler
Djokovic infizierte sich selbst, seine Frau Jelena auch, zudem Eingeladene wie der bulgarische Spitzenmann Grigor Dimitrow. Mittendrin in dem beklagenswerten Getümmel war auch Alexander Zverev, er verspielte sich allerdings Sympathien erst später, als er seinen Beteuerungen, er werde sich in eine selbst auferlegte Quarantäne begeben, keine Taten folgen ließ. Stattdessen ging die Party für ihn auch an der Cote d´Azur weiter, nahe seinem Domizil in Monte Carlo.
Solche Hasardeurs-Mentalität kann sich in New York niemand leisten. Es wäre nicht nur eine Gefahr für das Turnier selbst, sondern eine Gefahr für den gesamten Re-Start im Tennissport und kommende Turniere wie etwa die Hamburg European Open und die French Open. Das „Manhattan-Projekt“, wie die US Open ihr Hygiene-Konzept mit abgeschotteten Bubble-Profis bezeichnen, muss funktionieren. „Wir erwarten, dass sich jeder US Open-Teilnehmer seiner großen Verantwortung bewußt ist“, sagt Turnierchefin Stacey Allaster.
Sie hat dabei auch die potentiellen Konsequenzen vor Augen – für den Fall, dass etwas komplett schief läuft in diesem Grand Slam-Mikrokosmos. Denn sie und ihre Grand Slam- und TourkollegInnen brauchen vielerorts dringend den Live-Kampf um Spiel, Satz und Sieg. Gerade die Major-Standorte haben in jüngster Zeit massiv aufgerüstet, neue Stadien wurden gebaut, auch neue, kostenträchtige Dächer über bestehenden Stadien. Allein die US Open investierten in ihrem Verschönerungs-Masterplan bis zu 600 Millionen Dollar. Deshalb muss die Show auch weitergehen, notfalls zunächst ohne Zuschauer, ohne Stimmung, ohne Pomp und Getöse.
Eine Woche lang wurde das Masters-Turnier von Cincinnati auch in New York ausgetragen, es war ein Gewöhnungsprozeß an die neuen Regeln und Regularien in der Corona-Ära. Die beiden größten Arenen wurden allerdings nicht benutzt, auch um eine Rest-Identität für das Hauptspektakel zu bewahren, für die US Open.
Es wird dann allerdings auch erst so richtig beklemmend sein, wenn die ersten Matches im größten Tennisstadion der Welt über die Bühne gehen worden. Im Arthur-Ashe-Stadion, dem Tempel der Träume. Der bis zum 13. September, dem Finaltag der Herren, nun auch ein Tempel der frappierenden Stille sein wird.