Vorhand: Der unbewusste Druck, einen Winner spielen zu müssen

Den Punkt mit einem Winner beenden? Muss nicht immer sein, meint Tennis-Insider Marco Kühn.

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 22.11.2020, 09:49 Uhr

Kluges Tennis - auch für Stan Wawrinka der Schlüssel zum Erfolg
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Kluges Tennis - auch für Stan Wawrinka der Schlüssel zum Erfolg

Der Lehrer stellt eine Frage und du hast keine Ahnung. Weder kennst du die Antwort auf seine Frage, noch hast du irgendeinen Schimmer, wovon er spricht. Also tust du automatisch das, was meist immer funktioniert. Du legst die Denkerpose ein und weichst dem suchenden Blick des Lehrers aus. Du tust so, als ob du stark am Grübeln bist.

Eine ähnliche automatische Reaktion erleben wir im Ballwechsel. Die Kugel fliegt dreimal über das Netz und dann baut er sich auf. Man hält sogar oft die Luft an. Und dann, zwei Schläge später, entlädt er sich: der unbewusste Druck, einen grandiosen Ball spielen zu müssen, den der Kontrahent nicht mehr erreichen darf.

In diesem Artikel möchte ich mit dir analysieren, warum dieser Druck existiert und was du aktiv auf dem Court dagegen tun kannst. Unser Ziel ist es, dass du sicherer in längeren Ballwechseln wirst.

Lass uns starten.

Phase 1: Der Ballwechsel beginnt

Zu Beginn der Rallye spielst du noch bewusst sicher. Du möchtest die Kugel konstant zwischen T- und Grundlinie platzieren. Bloß nicht zu kurz werden. Doch sobald sich das Tempo der Schläge erhöht, beginnt der Druck zu wachsen. In deinem Kopf hörst du von weit entfernt eine Stimme, die dir sagt: "Du musst was machen. Du musst den Ball so platzieren, dass der da drüben nicht mehr reagieren kann!".

In vielen Ballwechseln ertönt diese Stimme nach dem dritten oder vierten Schlag. Und sie wird von Schlag zu Schlag lauter und schriller. Dann spielt man auf einen schnellen Ball des Gegners noch schneller.  Obwohl dies in der Spielsituation rational wenig Sinn macht. Manchmal möchte man auch einen Stoppball einstreuen. Doch ärgert man sich anschließend sofort über diese Entscheidung, weil sie ebenfalls rational keinen Sinn ergab.

Mit Beginn des Ballwechsels steigt der unbewusste Druck, einen Winner spielen zu müssen. Woran kann das liegen? Einer der Hauptgründe könnte sein, dass man seinen Gegner stärker sieht, als er ist. Es ist leicht, den Gegner auf ein Podest zu heben. Doch ist es oft schwer, ihn von dort wieder herunterzuholen.

Versuche ein realistisches und kein idealistisches Bild von deinem Gegner zu zeichnen. Er wird dir, solange er nicht Dominic Thiem heißt, vermutlich nicht in jedem Ballwechsel den dritten Ball um die Ohren hauen.

Phase 2: Du wirst hektischer

Im Einspielen triffst du den Ball noch sauber. Du holst kontrolliert aus, stehst perfekt zum Ball und der Klang deiner Bespannung verrät dir, dass die Vorhand schön lang vor die Grundlinie kommt. Im Match klingt die Bespannung dann aber oft anders. Du kannst nicht mehr nur aus dem Stand heraus spielen, sondern musst mehr laufen.

Dein Timing ist anders. Du musst nun nicht nur ausholen und dich pünktlich zum Ball stellen. Du musst ebenso den Ball des Gegners einschätzen können. Das ist schwierig, komplex und erfordert von dir mehr Aufmerksamkeit. Da du so viele Abläufe innerhalb einer extrem kurzen Zeitspanne absolvieren musst, erhöht sich von Schlag zu Schlag deine Hektik.

Du spürst diese Hektik ziemlich intensiv. Und genau aus diesem Grund willst du den Ballwechsel so schnell es möglich ist beenden. Idealerweise mit dem nächsten Schlag. Du holst allerdings nicht mehr so ruhig aus. Was kannst du in solchen Momenten tun? Versuche deine Aufmerksamkeit auf den Ball zu lenken. Mach es dir zur Gewohnheit, den Ball so genau und lang wie möglich anzuschauen. Viele deiner Bewegungen sind in deinem Unterbewusstsein abgespeichert. Es ist nicht notwendig, dass du dich auf jedes kleinste Element bei deiner Ausholbewegung konzentrierst. Dieses Budget an Konzentration kannst du für das Anschauen des Balles nutzen.

Wenn du diesen Prozess im Laufe eines Ballwechsels erlebt hast, lernst du dir und deinen Fähigkeiten stärker zu vertrauen.

Phase 3: Du willst den Punkt erzwingen

Ich hatte früher die Angewohnheit, Stopps spielen zu wollen, obwohl die Spielsituation überhaupt nicht dazu passte. Das lag daran, weil ich den Punkt unbedingt abschließen wollte. Entweder Punkt oder Fehler. Wenn man logisch darüber nachdenkt, dann besteht oft überhaupt kein Anlass, den Punkt um jeden Preis erzwingen zu wollen. Das Gegenteil kann sogar der Fall sein. Es macht meist mehr Sinn, den Ball einfach im Spiel zu halten. Novak Djokovic beherrscht diesen mentalen sowie taktischen Aspekt in absoluter Perfektion.

Er bleibt in seinen Bewegungen dabei absolut ruhig. Djokovic wird nie hektisch. Vielleicht nach einem Ballwechsel, wenn er einen Ball Richtung Plane drischt. Aber im Ballwechsel selbst macht es oft den Eindruck, als hätte er sich dazu erzogen, vollkommen kontrolliert die immer gleichen Bewegungen auszuführen.

Tipp: Versuche für dich herauszufinden, wie du Punkte erzwingen willst. Willst du direkt mit der zweiten Vorhand den Punkt machen? Gehst du auf jeden etwas kürzeren Ball des Gegners direkt drauf? Sobald du das herausgefunden hast, kannst du taktische Maßnahmen ergreifen. Analysiere für dich, wie du diese Spielsituationen anders lösen kannst. Zum Beispiel durch einen höher gespielten Topspinball oder einen mehr mittig gespielten Vorhandschlag.

Je besser du dich und deine Gewohnheiten auf dem Platz kennst, desto besser wirst du Tennis spielen.

von Marco Kühn

Sonntag
22.11.2020, 13:24 Uhr
zuletzt bearbeitet: 22.11.2020, 09:49 Uhr