Michael Stich – „Ich wollte Boris nicht vom Sockel stoßen“
Michael Stich erinnert sich an seinen größten Triumph, den Wimbledonsieg 1991 im deutschen Finale gegen Boris Becker.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
06.07.2016, 07:35 Uhr

Herr Stich,vor 25 Jahren haben Sie als zweiter Deutscher in Wimbledon gewonnen, im einzigen deutschen Grand-Slam-Endspiel bisher gegen Boris Becker.Was ist heute Ihre stärkste Erinnerung an das Turnier?
Michael Stich: Ich habe immer wieder eine Szene vor Augen, aber nicht vom Centre Court. Direkt vor dem Finale waren wir in der Umkleidekabine, Boris und sein Trainer Tomas Smid, ich mit meinem Coach Mark Lewis. Alle furchtbar angespannt, jeder in seiner Ecke. Wie vor einem Boxkampf. Da sagt mein Trainer zu mir „Was ist los. Du hast doch nichts zu verlieren?“ Und ich starre ihn an: „Ich habe einen Wimbledon-Sieg zu verlieren. Das ist verdammt viel.“ Und dann ging es auch schon raus auf den Platz, mit diesem alten Mann, der einem die Taschen rausträgt. Eddie hieß er.
Wie süß war dieser Sieg gegen den überlebensgroßen Becker, den dreimaligen Champion?
Stich: Ganz ehrlich, mein Ziel war nicht, Boris vom Sockel zu stoßen. Ich wollte einfach nur besser sein und das Wimbledonfinale gewinnen.
Bei einem Empfang im Deutschen Haus für Wimbledon-Sieger Stich servierte Überraschungsgast Becker in Badelatschen Platten mit Schnittchen.
Stich: Ich hab nur mitgekriegt, dass er bei der Feier da war. Aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Mir war alles egal: Ich wäre auch glücklich gewesen, wenn ich mit dem Pokal einsam auf einem Berg gesessen hätte.
Haben Sie beim Champions Dinner, mit geliehenem Anzug, mal mit Steffi Graf getanzt, der Siegerin im Frauenwettbewerb?
Stich: Nein, dieser Kelch ging glücklicherweise an uns vorüber. Aber es gab noch eine wundervolle Anekdote beim Dinner. Plötzlich kam ein Mann auf mich zu und sagte: „Ich möchte Sie unbedingt meinem Schwiegervater vorstellen.“ Ich sagte: „Gerne, warum nicht.“ Dann sind wir zu dem älteren Herrn hingegangen, immerhin war er schon 95, doch der schaute mich von oben bis unten an und sagte nur: „Wer bist du denn?“ Sein Schwiegersohn wurde ganz rot im Gesicht: „Er ist der Wimbledonsieger.“ Der alte Herr: „Ach, wie schön.“
Und wer war der Mann?
Stich: Henri Cochet, einer der vier legendären Tennis-Musketiere aus Frankreich. Er hat mit 92 übrigens noch mal geheiratet.
Was ist für Sie das Unverwechselbare und das Ärgerliche an Wimbledon?
Stich: Das Schönste ist der Centre Court. Du atmest und spürst die Geschichte, wenn du ihn betrittst. Vielleicht liegt es daran, dass er aus lebendem Material besteht, aus Holz. Ich hatte immer das Gefühl, dass in diesem Holz Gerüche oder Erinnerungen von früher gespeichert waren. Nirgendwo anders ist der Unterschied größer, auf einem der wichtigen Courts oder einem der Nebenplätze zu spielen. Die majestätische Ruhe auf dem Centre Court, dann die Hektik und das Chaos draußen, wenn du dich als Spieler erst mal durch ein paar hundert Leute zum Platz durchkämpfen musst. Aber das ist eben dieser Reiz, der Reiz der Gegensätze: Du musst dieses Turnier akzeptieren, so, wie es ist. Sonst hast du keine Chance.
Warum haben Sie nicht öfters in Wimbledon gewonnen?
Stich: Ein Titel ist besser als keiner. Aber es hätten durchaus mehr sein können, sicher. Vor allem 1993. Da habe ich mein bestes Rasentennis gespielt, kam als Queen’s-Sieger nach Wimbledon. Und ich dachte: Ihr könnt alle eure Taschen packen und heimfahren. Gebt mir den Pokal in die Hand, und dann ist es gut. Ich war so unwahrscheinlich sicher.Dann war die Enttäuschung umso größer, als ich gegen Boris im Viertelfinale verlor.
Eine der größten Herausforderungen war und ist die dichte Abfolge der Major-Turniere, der French Open auf Sand und, inzwischen drei Wochen später, Wimbledon auf Rasen.
Stich: Das ist wirklich das Härteste in diesem Sport. Aber mir ging es immer so: Wenn ich gut spielte, habe ich praktisch den Schmerz und die Anstrengung vergessen, die hinter den Siegen stehen. 1991 war ich ziemlich nahe am Doppelschlag, Halbfinale Paris, Sieg in Wimbledon.
Wie wichtig war bei diesem Wimbledonsieg das Team drumherum - und nicht nur der richtige Trainer?
Stich: Die Antwort darauf ist eine andere: Es war schon eine große Gnade, dass wir alle in unserer Generation nicht diese typischen Tennis-Eltern hatten. Mein Vater und meine Mutter haben mich geschützt, wo es nur ging. Aber sie haben auch gesagt: Geh raus, mach deinen Weg. Wenn das nicht so ist und die Eltern ihren Sohn zum Beruf machen, ist es unheimlich schwer als Trainer oder Berater.
Wie hat Ihr Alltag, Ihr Leben nach dem Tennis ausgesehen? Lange Zeit hat die Öffentlichkeit nicht viel davon mitbekommen.
Stich: Ich habe nicht den Masterplan gehabt, was ich tun wollte. Deshalb habe ich mir viel Zeit genommen. Seit mehr als zwanzig Jahren kümmere ich mich sehr intensiv um meine Stiftung für Kinder und Jugendliche, die mit dem HI-Virus infiziert oder an Aids erkrankt sind, ich bin als Unternehmer tätig und seit 2009 Turnierdirektor am Hamburger Rothenbaum.
Haben Sie manchmal die berauschenden Momente vermisst, als Gladiator in einer der großen Arenen zu spielen?
Stich: Danach darf man nicht mehr suchen. Ich hatte diese wunderschönen Erlebnisse als Profi, in Wimbledon oder bei den US Open, aber ich wusste auch: Das kriegst du nicht mehr, wenn du mal mit dem Tennis aufgehört hast. Doch die Erinnerungen daran bleiben wach.
Das Gespräch führte Jörg Allmeroth.
STECKBRIEF MICHAEL STICH
Geboren: 18. Oktober 1968, Pinneberg.
Höchstes Ranking: Platz 2 am 22. November 1993.
Karrierepreisgeld: 12.628.890 US-Dollar.
Erfolge: Wimbledonsieger 1991, ATP-Weltmeister 1993. Davis-Cup-Sieger 1993 mit Deutschland.Goldmedaille im Doppel mit Boris Becker bei den Olympischen Spielen in Barcelona 1992,auch1992 Doppelsieger in Wimbledon mit John McEnroe durch ein 19:17 im 5. Satz nach 5 Stunden und 2 Minuten gegen Grabb/Reneberg.16 weitere Einzeltitel auf der ATP-Tour. Stich gewann 1991 und 1993 Turniere auf allen vier Belägen: Sand, Rasen, Hartplatz und in der Halle.