Angelique Kerber – Die Chance auf den ersten ganz großen Coup
In Abwesenheit von Serena Williams ist bei den WTA Finals in Singapur Angelique Kerber durchaus der Titel zuzutrauen.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
23.10.2015, 10:12 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Als Angelique Kerber vor drei Jahren zur glitzernden WM-Auslosung in ein Istanbuler Luxushotel hereinmarschierte, in einem eleganten schwarzen Abendkleid, hat sie ziemlich ungläubig die ganze Szenerie bewundert. Das Blitzlichtgewitter, den Pomp und Prunk, das Aufstellen für das Gruppenfoto der acht Besten des Tennisjahres. Eher wie ein schüchterner, verirrter Zaungast wirkte die Kielerin bei ihrer WM-Premiere am Bosporus. Und nicht wie jemand, der mit aller Selbstsicherheit, Gewissheit und Souveränität zur Elite dazugehört. „Es war eine unwirkliche Erfahrung damals. Ich habe mich wirklich gefragt: Ist das ein Traum, dass ich bei einer WM mitspiele“, sagt Kerber.
Alles ist offen, nichts gewiss bei dieser WM
Im Herbst 2015 wundert sich niemand mehr über Kerber. Sie selbst, die deutsche Frontfrau, am allerwenigsten. Kerber ist nicht nur der verlässliche Faktor unter vielen launischen deutschen Spitzen-Tennisspielerinnen. Sie ist auch eine stabile Größe in diesem globalen Tourbetrieb geworden, eine, die fast immer in den letzten 36 Monaten unter den Top Ten stand.Und die nun auch zum dritten Mal in vier Jahren beim letzten aller Pokalkämpfe einer Saison mitmischt, beim WTA-Finale, früher auch Masters genannt. Oder schlicht WM. Ab Sonntag wird in Südostasiens Boommetropole Singapur um den Titel gekämpft, Kerber zählt dann in einem Teilnehmerinnenfeld der vielen Müden und Maladen sogar zu den Favoritinnen. Serena Williams, die beinahe allmächtige Herrscherin der Szene, ist nicht mit dabei im Stadtstaat – ausgezehrt und enttäuscht nach der gescheiterten Titelmission bei den US Open. Was gleichzeitig bedeutet: Alles ist offen, nichts gewiss bei dieser WM.
Kerbers drittes Mitwirken bei diesem finalen Showdown illustriert ihre enorme Standfestigkeit, sich im immer komplexeren und herausfordernden Spitzentennis ganz vorne behaupten zu können. Nicht zuletzt mit der Qualität, sich ständig und stetig verbessern zu wollen. Und sich, je nach Lage, mit den richtigen Dienstleistern an den richtigen Positionen zu umgeben. Wo sich ihre deutschen Kolleginnen und Freundinnen schwer taten, die geeignete Infrastruktur für ihre sportliche Kleinfirma aufzubauen, stellte sich Kerber nahezu immer das richtige Personaltableau zusammen. Und wenn das 27-jährige Nordlicht Defizite erkannte, wurden sie beiseite geräumt. Neben der Entscheidung, sich im März wieder den alten Wegbegleiter und Vertrauten Torben Beltz als Coach an die Seite zu holen, ragt in dieser Spielzeit die Verpflichtung des Physiotherapeuten Alex Stober heraus. Stober zählt zu den Besten in der Branche der Fitmacher, einer, dessen Kneterfahrung schon Koryphäen wie Pete Sampras und Na Li schätzten. In der kommenden Winterpause will Stober für noch mehr Drahtigkeit und Wendigkeit bei Kerber sorgen, seine Mission, sagt er, „hat gerade begonnen. Wir sind am Anfang.“
Wie die „Chinesische Mauer“
Kerber kann schon in Singapur gegen die Verdächtigung ankämpfen, auf großen Bühnen nicht immer gerüstet zu sein für die ganz großen Spiele und Prüfungen. Denn bei allen Meriten in der Serie 2015 – vier Premier-Titel auf vier verschiedenen Belägen – ist ein Manko offensichtlich geblieben: Die fehlende Schlagkraft bei den überstrahlenden Grand-Slam-Turnieren, die erstaunlich verkrampfte Attitüde dort, die unerwartet hartnäckigen Probleme, mit Drucksituationen umzugehen. Kerber erreichte bei keinem der vier Majors in dieser Saison die zweite Turnierwoche, also das Achtelfinale. Aber man muss zu ihrer Ehrenrettung auch sagen, dass sie bei ihrem Drittrunden-Aus zuletzt in New York gegen die WeißrussinVictoria Azarenkaam vielleicht besten Saisonspiel überhaupt im Frauentennis beteiligt war. Da war von Zurückzucken, von Fahrigkeit, von Zaudern und Zögern keine Spur. Kerber spielte dabei eigentlich so überzeugend, wie sie es an ganz vielen Einsatzorten im Tennis-Universum tut.
Wenn Kerbers Qualitäten beschrieben werden, geht es meistens um ihre vielbeschworene Zähigkeit und ihre Zermürbungskräfte. Kerber ist eine Meisterin der Verteidigung, eine Künstlerin gar des Entfesselns aus allen möglichen und unmöglichen Gefahrensituationen. Oft rennt sie ihre Gegnerinnen in Grund und Boden, bringt sie mit dem letzten, noch immer und irgendwie übers Netz gespielten Ball zur Verzweiflung. „Es gibt keine Spielerin, gegen die man so schwer einen Punkt machen kann wie Kerber“, sagt US-Tennislegende Chris Evert. Die SerbinJelena Jankovicsprach nach dem Finalsieg in Hongkong davon, Kerber sei in etwa so schwer zu überwinden „wie die Chinesische Mauer.“ Kerber zeigt ihre Muskeln inzwischen durchaus selbstbewusst, nur eben noch nicht oft genug an entscheidender Stelle. „Wenn sie frei aufspielt, wenn sie an sich glaubt, wenn sie den Druck wegfedert, ist sie immer eine Siegkandidatin – auch jetzt in Singapur“, sagt Bundestrainerin Rittner. Besser und stabiler als Kerber ist jedenfalls seit den Zeiten von Steffi Graf und Anke Huber keine Deutsche mehr im Welttennis unterwegs gewesen – weder bei Männern noch bei Frauen. Kerber wäre längst reif für einen größeren Coup, für mehr als Turniersiege im Arbeitsalltag. Singapur, die WM, es könnte ihre Chance sein. „Ich will zeigen, was ich kann“, sagt die Deutsche, „ich glaube an meine Chance.“