ATP Finals London: Alexander Zverev und das symbolische Ende 2019

Die Saison 2019 war nicht die allerbeste für Alexander Zverev. Die Neuausrichtung in seinem Umfeld sollte der deutschen Nummer eins helfen, im kommenden Jahr höher gesteckte Ziele zu erreichen.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 17.11.2019, 13:21 Uhr

Es war der falscheste Moment, um noch einmal von den Dämonen der Vergangenheit gepiesackt zu werden. Alexander Zverev lag am Samstagabend 5:6 im ersten Akt des WM-Halbfinales gegen Dominic Thiem zurück, er hatte einen Satzball gegen sich, er machte sich zu seinem zweiten Aufschlag bereit. Und dann passierte, was so oft in dunkleren Phasen dieser verwirrenden, verworrenen, oft auch verstörenden Saison passiert war. Zverevs Nerven versagten, er schlug – sichtlich zaudernd und zögernd - einen Doppelfehler, der erste Satz war verloren. Und wenig später war dann auch alles vorbei, die Hoffnung auf einen erneuten Überraschungscoup beim Saisonabschluss der acht Besten, der Traum von einer Titelverteidigung und einem sehr versöhnlichen Serienende im Jahr 2019. „Dieses Jahr war nicht das beste für mich“, sagte Zverev später, nach seiner 5:7, 3:6-Niederlage gegen Thiem. 

Zverevs Ende bei diesem Championat war symbolisch aufgeladen, denn es spiegelte ziemlich exakt eine Spielzeit wider, in der der 22-jährige Hamburger zu oft an eigenen Problemen laborierte und nicht wirklich eine Bedrohung für die anderen Elitespieler darstellte. Zverevs Berg- und Talfahrt ging bis auf die Zielgeraden weiter, bis zur Weltmeisterschaft in Londons O2-Arena – zwei Siege, zwei Niederlagen, zwei starke Auftritte, zwei eher durchwachsene Vorstellungen. Es war nicht bitter enttäuschend, aber es war auch nicht gut genug, um mit den sogenannten Momentum-Spielern der Branche mitzuhalten – mit den brillant auftrumpfenden Endspielrivalen Thiem und Stefanos Tsitsipas. Das Ende des Jahres sei dennoch alles in allem „ganz gut“ gewesen, befand Zverev, darauf könne er für die Saison 2020 aufbauen. 

Zverev hat den Punch bei den Big Points verloren

Allerdings hat Zverev in den letzten Monaten Terrain verloren im Machtspiel rund um den Tennisgipfel. Nicht unbedingt, weil er selbst dramatisch an Niveau eingebüßt hätte. Sondern weil die Konkurrenz aufgeholt hat, besser und besser geworden ist – während er, Zverev, eben gerade den Punch bei den sogenannten „Big Points“ verloren hat. In vielen kritischen, kniffligen, wirklich entscheidenden Situationen fehlte ihm die zupackende Attitüde, die souveräne Haltung und Ausstrahlung, um sich gegen seine hochkarätigen Gegner durchzusetzen. 

Das ganze Kulissenthater im Team Zverev - die Auseinandersetzungen mit dem Ex-Manager Patricio Apey, das Gerangel zwischen Supercoach Ivan Lendl und Trainervater Alexander Zverev senior – schlug direkt auf Zverevs Psyche: 385 Doppelfehler addierte der Hamburger bis zum Samstagabend auf, bis zu seinem traurigen Abgang aus dem Veranstaltungspalast im Londoner Osten. 2018 waren es bloß 210 gewesen, bis zum Triumphzug in der O2-Arena. Oft produzierte Zverev in in den letzten Monaten zehn und mehr Doppelfehler in einzelnen Partien, beim Masters in Cincinnati im Sommer schrammte er mit 20 Doppelfehlern nur knapp am ewigen ATP-Negativrekord vorbei (23).

Thiem, Tsitsipas, Medvedev stürmen heran

Zverev lebte noch einmal auf, im Herbst, nach seinem Auftritt beim Schauturnier Laver Cup. Aber trotz einer leicht aufpolierten Matchbilanz im Endspurt bleibt nun die Frage, mit welchem Personal der 22-jährige die nicht leichter werdenden Herausforderungen der kommenden Saison bewältigen will. Als Lendl sich im Juli aus dem Team Zverev verabschiedete, lag es nahe, erst einmal zum Status quo zurückzukehren, zur Betreuung durch Vater Alexander. Und nun, schlägt jetzt doch die Stunde für die oft und gern herbeispekulierte Zusammenarbeit von Zverev und Boris Becker? Es gäbe tatsächlich kaum einen besseren Moment für den Tennis-Kanzler, um seinen vielversprechendsten Erben noch etwas tatkräftiger zu unterstützen. Denn wenn nicht alles täuscht, steht 2020 die Hierarchie im Welttennis echt auf dem Prüfstein. Und Zverev muss aufpassen, um mit den ebenfalls gegen die Alten Herren anstürmenden Kollegen wie Thiem, Tsitsipas oder Daniil Medwedew und Matteo Berrettini Schritt zu halten. Anfang 2020 wolle man sich unterhalten, hieß es in London von Zverev, als er auf eine mögliche Liasion mit Becker angesprochen wurde. Denkbar, dass bis dahin auch Becker Klarheit schaffen will, welche Aufgaben und Positionen er überhaupt übernehmen kann.

Zverevs Saison ist offiziell beendet, ohne schon vorbei zu sein. Am Sonntagabend flog er mit Roger Federer, der ebenfalls im WM-Halbfinale ausgeschieden war, Richtung Südamerika. Vier Schaukämpfe des Duos in Chile, Kolumbien, Mexiko und Ecuador stehen noch an, bevor Zverev dann auch in eine kurze Ferienpause gehen kann. Sie wird sogar noch kürzer als geplant sein, weil Zverev sich einer Augenoperation in New York unterziehen muss - seit geraumer Zeit macht ihm eine schwerere Form der Hornhautverkrümmung (Astigmatismus) zu schaffen, sie behindert ihn vor allem, wenn er Kontaktlinsen trägt. Zumindest medizinisch könnte Zverev danach die Welt wieder klarer sehen.

von Jörg Allmeroth

Sonntag
17.11.2019, 15:15 Uhr
zuletzt bearbeitet: 17.11.2019, 13:21 Uhr