Daniil Medvedev - Der Tennis-Kauz aus Moskau steigt auf den WM-Thron

Daniil Medvedev hat bei den ATP Finals in London den letzten Titel des Jahres 2020 gewonnen. Der Russe hat damit seine herausragende Vorsaison mehr als bestätigt.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 23.11.2020, 11:13 Uhr

Daniil Medvedev mit der letzten Tennis-Trophäe 2020
© Getty Images
Daniil Medvedev mit der letzten Tennis-Trophäe 2020

Am irgendwie traurigen Ende von elf WM-Jahren in London war es vielleicht die passende Szene. Daniil Medvedevs, der Mann, der am Sonntagabend im trostlosen Geisterhaus der O2-Arena zum ATP-Champion 2020 aufgestiegen war, verzog im Augenblick seines größten Karrieretriumphs nicht die geringste Miene. Ein Sieg ohne Jubel, Trubel, Heiterkeit. Ein großer Moment auf großer Bühne ohne große Emotionen – es war genau so, wie es sich der seltsame Russe ausgemalt hatte. „Alle machen etwas Besonderes, wenn sie gewinnen“, sagte Medvedev nach seinem 4:6, 7:6 (7:2), 6:4-Sieg über den österreichischen Favoriten Dominic Thiem, „das Besondere bei mir ist, dass ich nicht feiere.“ So schlich der Kauz dann eher grimmig als grinsend zum Netz, ließ sich von Thiem gratulieren – und schrieb dann auf seinem Handy erst mal ein paar Kurznachrichten.

Medvedev (Spitzname „Bär“) hätte allen Grund gehabt, sich selbst zu feiern nach den letzten sieben Tennistagen dieser verrückten, gespenstischen und bizarren Saison. Was sich bereits beim glatten Auftaktsieg in der Vorrunde gegen Alexander Zverev andeutete, wurde zum Fortsetzungsmotiv beim größten ATP-Turnier ohne jegliche Fans: Der 24-jährige Moskowiter war der Mann, über den jeder Weg zum Titel führte. In die Knie zwingen konnte den Ausdauer- und Verteidigungskünstler aber schließlich keiner. Am Ende hatte der eigenwillige Medvedev sogar das Kunststück fertiggebracht, mit Rafael Nadal, Novak Djokovic und Thiem die drei führenden Ranglistenspieler allesamt zu schlagen – ein Novum in der WM-Geschichte. Und schwer zu fassen für Weltmeister Medvedev selbst: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich so was noch mal in meinem Leben schaffen werde.“

Während der Corona-Pause eher Statist

Medvedev gehörte lange Zeit eher zu den Akteuren, die in der Corona-Pandemie verloren und leicht orientierungslos wirkten. Bis weit in den Herbst hinein war der Russe meist eher ein Statist im Tourgeschehen, überzeugend war allenfalls sein Halbfinal-Vorstoß bei den US Open. Dagegen schied er bei den French Open, die auf Ende September/Anfang Oktober verlegt worden waren, sang- und klanglos in der ersten Runde aus. Seine Schlussoffensive war umso bemerkenswerter. Beim Masters-Sieg in Paris und nun in London blieb er ungeschlagen, gewann sieben Mal gegen Top Ten-Konkurrenz. Ein ums andere Mal rettete er sich aus bedrängter Lage, dicht vor dem Ausscheiden. „Eins hat Medvedev vor allem: Gute Nerven“, notierte der frühere Weltranglisten-Erste Jim Courier im amerikanischen „Tennis Channel.“

Die robuste Psyche hatte Medvedev allerdings auch schon vor 15 Monaten bewiesen, als er zum ersten Mal der Tenniswelt so richtig bekannt wurde. Bei den US Open legte er sich nicht nur mit seinen Gegnern, sondern auch mit dem gefürchteten New Yorker Publikum an. Die rauhbeinigen Fans pfiffen den Russen aus, nachdem der ihnen sogar den Mittelfinger gezeigt hatte. Schlossen ihn aber irgendwann, nach legendären Reden und Auftritten, als geliebten Bösewicht ins Herz. Er arbeite hart daran, „ein guter Mensch“ auf dem Platz zu werden, sagte Medvedev damals nach der Finalniederlage gegen Nadal, „neben dem Platz bin ich das sowieso.“ Mancher dachte da auch an Jugendsünden Medvedevs, etwa an einen Vorfall in Wimbledon – dort hatte er aus Verärgerung einmal einer Schiedsrichterin einen Haufen Münzen vor die Nase geworfen, war hart bestraft worden dafür.

Medvedev mit vielen taktischen Optionen

Medvedevs unberechenbares Naturell spiegelt sich in seinem Spiel. Schlicht gesagt: Man weiß nie, was der 24-jährige im nächsten Moment von seinem Schläger zaubert. Oft wechselt er in einem Spiel mehrfach seine taktische Grundausrichtung, vom Vorwärtsdrang zum Verteidigungs-Bollwerk und wieder zurück. Während andere ein wahres Vorbereitungs-Schauspiel vor ihren Aufschlägen zelebrieren, stellt sich Medwedew hin und ballert im nächsten Moment drauflos. Nicht selten dauern seine Aufschlagspiele unter einer Minute, mit manchmal vier Assen hintereinander. „Bei mir ist vieles möglich“, sagt Medvedev. Und nichts unmöglich.

Medvedev wird in den nächsten Jahren ein gehöriges Wörtchen mitreden, wenn es um die Verteilung der Macht im Welttennis geht – um das Erbe von Federer, Nadal und Djokovic. Auch Thiem, Zverev, der Grieche Stefanos Tsitsipas, der Russe Andrej Rublev und der junge Südtiroler Jannik Sinner sind mit in diesem Spiel um die wichtigen Pokale. Noch fehlt allen Bewerbern die Konstanz, der längere Atem, um sich bereits abzusetzen als Kronprinz. Aber einer wie Medvedev weiß, dass er nicht ungeduldig zu werden braucht: „Ich habe noch zehn Jahre vor mir, mindestens“, sagt er, „ich kann noch viel gewinnen in dieser Zeit.“

von Jörg Allmeroth

Montag
23.11.2020, 13:45 Uhr
zuletzt bearbeitet: 23.11.2020, 11:13 Uhr