Daniil Medvedev: Wer kann den "Wahnsinn" stoppen?

Tennis-Insider Marco Kühn hat sich in seinem neuesten Artikel mit Daniil Medvedev auseinander gesetzt: dessen Spiel, dessen Eigenarten.

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 27.11.2020, 20:22 Uhr

Daniil Medvedev bei der Arbeit
© Getty Images
Daniil Medvedev bei der Arbeit

Wenn du Turniere spielst dann weißt du, wie sich die Gegner von Daniil Medvedev fühlen. Kaum Eigenfehler, merkwürdiges Verhalten zwischen den Ballwechseln und eine gewisse Unberechenbarkeit sind Zutaten für erfolgreiches Tennis. Auch im Bereich der Hobby- und Clubspieler sind Gegner, die sich eigenartig Verhalten und kaum Fehler machen, gefürchtet. Sie bearbeiten einen nicht nur spielerisch, sondern auch im Kopf.

Wie Daniil Medvedev zum Champion wurde

Wer ein wenig über den schlaksigen Russen liest, der stolpert schnell über ein wichtiges Zitat: "Ich begann mein Leben dem Tennis zu widmen. Ich begann alles zu tun, was in meiner Macht lag, um ein besserer Tennisspieler zu werden."

Diese mentale Ausrichtung war der Startschuss für den Erfolgslauf des Typen der nicht jubelt, wenn er gewinnt. Da wir Menschen Belohnungen lieben ist davon auszugehen, dass Medvedev im Jahr 2021 noch effektiver cross spielen und dabei noch weniger Fehler machen wird. Er wurde für seinen Einsatz, dem Tennis alles unterzuordnen, mehr als belohnt. Dies wird ihn beflügeln.


Das Selbstvertrauen hat er sich hart erarbeitet. Es wird schwierig, ihm in diesem Bereich die Bespannung zu zerschneiden.

Wenn wir auf die Spielweise von Medvedev schauen, dann fällt eines auf: Alles sieht ein wenig unberechenbar aus. Er sieht bei der Vorhand nicht so elegant wie Roger Federer aus. Es wirkt teilweise so, als würde er zu spät ausholen. Seine Aufschlagbewegung ist so simpel wie das Einmaleins. Es gibt keine aufwendigen und überflüssigen Haken. Er wirft die Kugel hoch, nimmt den Schläger in den Rücken und serviert. Was danach im Ballwechsel passiert, wird ebenso simpel aufgebaut. Er hält die Kugel im Spiel und gibt dem Gegner kaum die Möglichkeit effektiv Druck auszuüben. Fliegt der Ball einige Male über das Netz, setzt Medvedev seine kalkulierte Unberechenbarkeit ein. Er beginnt plötzlich schnell zu spielen, ans Netz zu laufen oder das Tempo des Ballwechsels komplett zu verändern.

Dieser "Wahnsinn" ist seine Taktik. Jeder Spieler auf der Tour wird davon ausgehen müssen, dass dieser Wahnsinn noch komplexer und schwieriger zu spielen wird.

Wer kann den "Wahnsinn" stoppen?

Der Triumph in London hat Daniil Medvedev an die Spitze des Herrentennis gesetzt. Zumindest für den Moment. Die letzten zehn Matches hat Medvedev allesamt gewonnen. Darunter waren Siege gegen alle großen Spieler, die das aktive Herrentennis derzeit kennt.

Mit dem Start in die Saison 2021 ist Medvedev der Mann, den es zu schlagen gilt. Das nimmt Novak Djokovic etwas Druck von den schmalen Schultern. Doch man sollte nicht glauben, dass Medvedev irgendeine Art von Erwartungsdruck verspüren wird. Wer nicht jubelt, wenn er die Finals gewinnt, der wird auch keinen Druck bei eigenem Aufschlag haben.

 Wir haben vorhin die Spielweise von Medvedev grob skizziert:

- wenige Fehler
- unberechenbar
- viel cross, viel durch die Mitte
- extrem starkes Returnspiel
- flexibler, variantenreicher Aufschlag

Die neue Generation von Spielern verkörpert eine andere Idee, um erfolgreiches Tennis zu spielen. Es ist ein wenig das Kontrastprogramm zu dem, was Medvedev spielt. Rublev, Shapovalov, Auger-Aliassime und Sinner spielen alles andere als abwartend. Sie gehen auf die Kugel drauf und besitzen echte Waffen in ihrem Spiel. Sie sind alle in der Lage einen Gegner vom Platz zu schießen. Sie diktieren, setzen jeden Gegner vom ersten Schlag an unter Druck und können jedes Tempo mitgehen. Dominic Thiem gehört selbstverständlich ebenfalls zu diesem Spielertypus. Auch wenn er nicht mehr zu der neuen Generation gehört, sondern ein etablierter Champion geworden ist.

Was aber machen diese Jungs, wenn ein Gegner ständig das Tempo aus dem Ballwechsel nimmt?

"Hardhitter" vs. "Wahnsinn"

Wer viele Winner schlagen will, der braucht Rhythmus. Es ist genau dieser, den Medvedev zu vernichten weiß. Dazu benötigt ein Hardhitter geistige Frische. Wer mental ein bisschen angeknackst ist, der fabriziert mehr leichte Fehler. Dies ist der natürlichen Spielweise geschuldet. Da der gute Daniil ein Meister darin ist in den Kopf des Gegners zu krabbeln und dort für Lärm zu sorgen, ist es mit "hart schlagen" nicht genug. Dazu stelle ich es mir mental extrem ermüdend vor gegen Medvedev spielen zu müssen. Er schenkt einem nichts, hat kaum Schwächephasen und ist dazu auch noch in der Lage kürzere Bälle zu töten. Gegen ihn zu spielen ist, vor allem in längeren Matches, mental mit dem Besteigen des Mount-Everest vergleichbar.

Es bedarf also einer Mischung. Wer Medvedev stoppen möchte, der muss aggressiv spielen und zugleich beinahe stoisch wirken. Und auch wenn jetzt ein Name fällt, den man nicht unbedingt mit dem Begriff "Stoisch" verbinden würde, kann dieser Typ zu den wenigen Spielern gehören, die Medvedev Beinchen stellen können.

Alexander Zverev und Dominic Thiem besitzen die spielerischen sowie auch mentalen Waffen, um Medvedev in großen Matches zu schlagen. Thiem hat dies bereits bewiesen und hat seine größten Erfolge noch vor sich. Und auch Zverev, der in seiner jungen Karriere schon so einiges auf und neben dem Platz erleben durfte, bringt alles mit. Er spielt aggressiver und hat sein Netzspiel verbessert. Sein Aufschlag ist eine Macht und ein absolut wirkungsvolles Mittel, um Spielertypen zu Medvedev zu schlagen. Zverev kann, mit seinem Aufschlag, die Returnstärke von Medvedev ein wenig aus dem Spiel nehmen.

Was auf jeden Fall passieren wird? Wir werden hochklassige, spannende Matches erleben, die aufgrund der unterschiedlichen spielerischen Ausrichtungen für atemberaubende und spektakuläre Ballwechsel sorgen werden. Dafür steht allein Dominic Thiem seit Jahren mit seinem Namen.

von Marco Kühn

Freitag
27.11.2020, 20:00 Uhr
zuletzt bearbeitet: 27.11.2020, 20:22 Uhr