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Kerber im großen Spiel

Die Kielerin reist als Geheimfavoritin zu den French Open.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 25.05.2012, 10:07 Uhr

Von Jörg Allmeroth

Es war eine Serie, die in der letzten Tennis-Saison für beträchtliches Aufsehen sorgte – nur leider aus den völlig falschen Gründen. Gleich elf Erstrundenspiele verlor da eine gewisse Angelique Kerber in den Startmonaten der Saison, mal gegen harmlose Konkurrenz wie die SloweninPolona Hercogin entlegenen Winkeln des Tennis-Wanderzirkus wie Monterrey, mal gegen die übermächtig scheinende FreundinAndrea Petkovicin Paris (Indoor) oder in Dubai. Oder auch mal gegen eine wenig bekannte Rumänin namensEdina Gallovits-Hallbei den French Open in Paris. So sehr nagte die Misserfolgsserie am Selbstwertgefühl und der Moral von Kerber, dass sie nach dem deprimierenden Roland-Garros-Ausscheiden, wieder mal gleich zum Auftakt, darüber nachdachte, „ob das alles überhaupt noch einen Sinn hat“: „Es war nicht so, dass ich vor einem Rücktritt stand“, sagt Kerber, „aber in diesem Moment fehlte mir jede Perspektive. Und das Zutrauen, dass aus meiner Karriere etwas Vernünftiges wird.“

Wenn an diesem Sonntag die Internationalen Französischen Meisterschaften beginnen, könnte der Kontrast kaum größer sein für die Berufsspielerin aus Kiel – das gilt für das eigene Selbstbewusstsein genau so wie für den Eindruck, den die 24-jährige auf den Rest des Tennis-Universums macht. Aus der verzagten, selbstzweiflerischen, zuweilen orientierungslosen Deutschen ist eine professionelle Athletin geworden, die inzwischen selbst als Kandidatin für wertvollste Titel gilt, jedenfalls für noch wertvollere als jene, die sie in dieser Spielzeit schon in Paris (Indoor) und in Kopenhagen gewann. Als „Spielerin, auf die man aufpassen muss“, als geheime Mitfavoritin, stuft sie bereits die „New York Times“ ein, wiewohl die Geduldsspiele im roten Sand traditionell nicht gerade zu den Lieblingsdisziplinen des Nordlichts gehören. Eigentlich mag's Kerber lieber schneller, dynamischer und aggressiver, auf den Betonplätzen in Nordamerika oder schnellen Hallenböden.

Auf dem Weg nach Istanbul

Aber gerade hat sie wieder in Rom, mit einer Halbfinalteilnahme beim hochkarätig besetzten Premium-Turnier, bewiesen, dass mit ihr jederzeit und überall und immer wieder zu rechnen ist. „Es ist schon bemerkenswert, wie konstant gut sie spielt. Und sich kaum einmal einen Ausrutscher leistet“, sagt Fed-Cup-Teamchefin Barbara Rittner. Eine der wenigen Enttäuschungen im Jahr 2012 leistete sich die Schleswig-Holsteinerin ausgerechnet als neue Führungsspielerin beim Fed-Cup-Relegationsmatch gegen Australien, am dritten April-Wochenende in Stuttgart. „Ich bin trotz aller Erfolge noch nicht soweit, um jedes dieser wichtigen Spiele zu gewinnen.“ Kerber sammelt, kurz gesagt, zwar viele Siege, aber auch noch jede Menge Erfahrungen in ihrer neuen, schroff veränderten Tenniswelt. Und in einer Hierarchie, in der sie selbst nun ziemlich weit oben angekommen ist, auf Platz 10 sogar seit dem Auftritt bei den Italienischen Meisterschaften, der erst in derVorschlussrunde gegen die überragende Maria Sharapovaendete. „Der reinste Wahnsinn“ sei das alles, sagt Kerber, nunmehr auch die Frontfrau des deutschen Tennis, die Nachfolgerin jener Andrea Petkovic, die sie in der letzten Saison, nach dem Wimbledon-Aus, bekniet hatte, doch mal in der Offenbacher Tennisakademie vorbeizuschauen und sich dort vielleicht neue Impulse zu holen.

Wohin das alles geführt hat, der Tipp, der Aufenthalt in der Tennisschmiede, kann nun etwa zehn Monate später bestaunt und durchaus bewundert werden. Keine zweite Spielerin im Tourgeschäft hat in diesem Zeitraum einen ähnlichen Aufstieg erlebt, einen Vormarsch, der noch mit Coups wie einem US-Open-Halbfinaleinzug 2011 versüßt wurde. Das Phänomen Kerber? Es drückt sich in nackten Zahlen, Daten und Fakten aus, in einer Bilanz, die weit entfernt ist von den tiefroten Werten etwa des ersten Halbjahres 2011 und die für 2012 nunmehr 32:10-Siege aufweist. Doch bemerkenswerter noch ist die Persönlichkeitsentwicklung der Profispielerin, die in der Jahreswertung der Spielerinnengewerkschaft WTA auf Platz 5 liegt und damit gegenwärtig für die WM im Oktober in Istanbul qualifiziert wäre.

Reifeprozess im Eiltempo

„Sie hat einen Reifeprozess im Eiltempo durchgemacht. Sie weiß jetzt ganz genau, was sie wie machen muss, um erfolgreich zu sein“, sagt Rittner, die Trainerin. Auch sie, die Vertraute aus dem Fed Cup, wirkt zuweilen noch etwas verwundert, wenn sie auf Kerbers neuen Sturm und Drang schaut – schließlich hatte sie die Kielerin in den letzten Jahren auch eher scheu, schüchtern und übersensibel erlebt, eine junge Frau, die sich lange Zeit nicht einmal recht entscheiden konnte, ob sie für Deutschland oder Polen (ihr Vater ist Pole) in den Nationenwettbewerben antreten sollte.

Auch hier herrscht nun Klarheit, wie in vielen anderen Dingen ihrer professionellen Karriere: Deutschland, ihr Geburtsland, ist das Land, das sie im Fed Cup vertritt. Und für das sie bald auch bei den Olympischen Spielen in London an den Start gehen wird. Das war vor einem Jahr noch reinste Utopie für sie, eine Vorstellung, die sie nicht einmal „zu träumen wagte“. Und doch wird sie nun 2012 gleich zwei Mal in Wimbledon ihr Glück versuchen, an jenem Schauplatz, an dem das erste Tennis-Leben der Angelique Kerber 2011 endete. Und an dem, unfreiwillig zwar, irgendwie schon ein neues, aufregenderes und schöneres Leben begann. „Ich habe noch viel vor. Ich kann viel erreichen, und ich habe auch Geduld für meine Ziele“, sagt sie. Und findet dennoch, „dass man energisch zupacken muss, wenn man Chancen hat“. Zum Beispiel in dieser Saison, der mit Abstand besten Saison ihrer Karriere.(Foto: Porsche Grand Prix)

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