Julia Görges - "Ich habe keine Rechnungen offen"

Mit Julia Görges hat die erste Frau aus der Goldenen Generation des Deutschen Tennis Bundes ihren Abschied genommen.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 22.10.2020, 10:58 Uhr

Julia Görges sucht neue Herausforderungen
© GEPA Pictures
Julia Görges sucht neue Herausforderungen

Als auch der Tenniszirkus im Frühling in den großen Stillstand überging, machte Julia Görges eine leicht verwirrende Erfahrung. Zuerst fehlte ihr der übliche Wettkampfdruck, die Anspannung im Job, die Energie des professionellen Sportlerlebens. „Das Herunterfahren war schon komisch“, sagt Görges. „Ich habe anfangs sogar schlecht geschlafen, weil der übliche Rhythmus nicht da war.“ Aber bald änderte sich alles für sie. Görges genoss es, an einem einzigen Ort zu sein, morgens im eigenen Bett aufzuwachen, nicht an das nächste Turnier oder die nächste Reise denken zu müssen. Die Entschleunigung war beinahe magisch: „Auf einmal hatte ich so viel Zeit vor mir. Zeit für mich“, sagt Görges, „es war wunderbar, den ganzen Sommer daheim zu verbringen.“ Es sei etwas gewesen, „dass ich als erwachsener Mensch nie hatte.

Aus dem Zustand der leichten Entfremdung von ihrem Beruf und seinen Nebenwirkungen, etwa des rastlosen Herumreisens, ist Görges nie wieder herausgekommen - und wer ihr im Spätherbst bei einem längeren Gespräch in ihrer Wahlheimat Regensburg genauer zuhörte, der konnte nicht ganz überrascht sein, dass sie sich nun dazu entschlossen hat, dem Tennis Lebwohl zu sagen. Emotional hörten sich ihre Abschiedsworte an, schließlich hatte sie sich dem Diktat einer professionellen Karriere zwei Jahrzehnte lang bedingungslos untergeordnet. Zugleich aber war es eine typische Julia-Görges-Entscheidung: Selbstbewußss, autonom, rational. 

Görges fand nicht mehr die nötige Hingabe

Görges blickte nüchtern auf die Lage, sie wusste, dass sie nicht mehr die nötige Hingabe aufbringen konnte und wollte. Und auch dies wußsse sie: Die Perspektive für das Spitzentennis würde ihr keine Freude machen, die drohenden Geisterturniere in den nächsten sicher zwölf bis achtzehn Monaten. Zu den US Open zuletzt war sie erst gar nicht hingefahren, und auch für die French Open, ihr allerletztes Turnier, bei dem sie allerletztes Match gegen Laura Siegemund verlor, galt dies: „Diese ganzen Einschränkungen, dieses Eingesperrt-Sein in einer Blase, da habe ich keine Freude dran.“

Corona, diese alles bestimmende und überlagernde Pandemie, könnte nicht nur für Görges wie ein Beschleuniger von Karriereüberlegungen wirken. Dazu muss man nur auf die goldene deutsche Generation blicken, die im letzten Jahrzehnt das deutsche Tennis prägte und in Gestalt von Angelique Kerber sogar für neue Grand-Slam-Traummomente sorgte. Görges ist nun ausgeschieden aus der Tretmühle der Tour, und man braucht kein Prophet zu sein, um weitere Rückzugsgedanken und Rückzugsmeldungen am Horizont zu sehen. Andrea Petkovic hätte vermutlich schon nach dieser Saison aufgehört, sie will nun noch ein Jahr dranhängen. Aber wer weiß, ob die Buchautorin und Teilzeit-Journalistin auch wirklich noch mal Muße an dem Tourleben und, ganz handfest, auch genügend Gelegenheiten zum Turnierstart findet. Auch für Kerber, die Frontfrau, war 2020 ein verlorenes Jahr. Sie wirkte zuletzt eher verloren im Geschehen auf großer Bühne, die Aussicht auf weitere Komplexitäten auf absehbare Zeit kann sie sicher nicht froher stimmen. Rechnet man erweitert auch Anna-Lena Grönefeld und Sabine Lisicki zu dieser erfolgreichen Spielerinnengruppe hinzu, ist in Bälde die große Leere möglich – ein deutsches Frauentennis ohne allzuviel Relevanz.

Paukenschlag in Stuttgart 2011

Görges wird sich das alles ab sofort von der Seitenlinie anschauen. Sie hat wahrscheinlich über die Schlagzeilen gelächelt, die von einem „Hammer“ oder gar „Schock“ sprachen. Letztlich war es für sie nichts weiter als ein konsequenter Schritt, der ein wenig an das erinnerte, was sie über Ortswechsel oder Umzüge gesagt hatte: „Ich bin überall so eine Vorübergehende. Ich genieße einen Ort, und dann kommt irgendwann ein Signal, und dann weiß ich: Damit es jetzt gut hier.“ Nun war es eben gut mit dem Tennis, auch weil sie in den Monaten der alternativen Beschäftigungen eine „sehr wichtige Erfahrung“ gewonnen hatte: „Ich weiß, dass ich nach dem Tennis auch gut zurechtkommen werde.“

Vor knapp zehn Jahren hatte Görges mit einem Paukenschlag die lange Tristesse im deutschen Frauentennis beendet, als sie beim Stuttgarter Topturnier 2011 den Pokal in die Höhe hielt. Im Endspiel besiegte sie damals die Weltranglisten-Erste Caroline Wozniacki. „Es war irre, denn zu Beginn der Woche hatte ich zu meiner Mutter gesagt: Den Porsche fahren wir nach dem Finale weg.“ Den Sportwagen, den die Siegerin traditionell neben dem Preisgeld bekommt. Nach dem Endspiel sei ihre Mutter auf sie zugekommen und habe gesagt: „Was hast Du denn da gemacht.“ Sie wurde danach als Grand-Slam-Gewinnerin gehandelt, als potenzielle Nummer eins. Aber oft gelang ihr nicht die schwierige Balance zwischen aggressivem und kontrolliertem Spiel. Spät in ihrer Karriere erlebte sie noch einmal einen bemerkenswerten Aufschwung, mit Wimbledon-Halbfinale 2018, mit Vormarsch in die Top Ten. „Ich habe keine Rechnungen offen. Ich alles andere als unzufrieden mit dem, was ich erreicht habe“, sagt Görges.

Absurde Reise nach Indian Wells

In Regensburg hatte Görges in den letzten Monaten die großen Tennisbühnen schnell aus den Augen verloren. Sie ließ auch mal Fünfe gerade sein, kümmerte sich um die Verschönerung ihres eigenen Heims, wurde zum Stammgast in Bau- und Gartenmärkten. „Ich liebe es, selbst zu designen, zu dekorieren“, sagt sie, „es gab genug zu tun, und ich habe es sehr, sehr gerne gemacht.“ Selbst einen hauseigenen Fitnessraum rüstete sie auf. Den braucht sie allerdings jetzt nicht mehr, um sich für weitere Turnierengagements vorzubereiten. Sondern nur, um nicht selbst einzurosten.

Im März war Görges noch 24 Stunden nach Indian Wells gereist, um beim „fünften Grand Slam“ in der kalifornischen Wüste an den Start zu gehen. Dann wurde das Turnier abgesagt, Görges flog wieder 24 Stunden zurück. „So richtig ins Bewusstsein eingesunken war das nicht gleich. Ich hielt das Ganze für einen Scherz“, sagt Görges, „und ich dachte auch: Die Normalität wird schon zurückkommen.“ Aber normal wurde nichts mehr, bis heute. Das alte Leben wich einem neuen, anderen Leben. Und in diesem neuen Leben gibt es nun keine Profispielerin mehr, die Julia Görges heißt.

von Jörg Allmeroth

Donnerstag
22.10.2020, 13:40 Uhr
zuletzt bearbeitet: 22.10.2020, 10:58 Uhr