"Ich will nichts verpassen"
Er galt als vielversprechendster Nachfolger von Boris Becker und Michael Stich. Jetzt hat Nicolas Kiefer den Schlussstrich unter eine Tenniskarriere voller Höhen und Tiefen gezogen.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
30.12.2010, 12:09 Uhr

Von Jörg Allmeroth
An einem sonnigen Frühlingstag in diesem April saß Nicolas Kiefer auf der Trainerbank der Hannoveraner AWD-Arena und sprach über sein gerade nächstes Comeback. Eine halbe Stunde plauderte er an seinem „heimlichen Lieblingsort“ vor den Kameras des Internetsenders tennislive.tv und sprach scheinbar angeregt über seine Pläne und seine Perspektiven. Das Gespräch war schon fast beendet, als Kiefer einen Blick in das Fußballstadion warf und energisch verkündete: „Die Ziele gehen mir nicht aus. Ich will unbedingt noch einmal bei den Olympischen Spielen 2012 in London antreten.“ Das hatte er unbedingt noch irgendwie loswerden wollen, bevor das Rotlicht der Kameras verlosch und er sich in seinen Geländewagen setzte und davon brauste, zu seiner schwangeren Frau.
Man hat es natürlich schon vor einem Dreivierteljahr geahnt, dass es nichts mehr werden würde mit einer neuen wundersamen Rückkehr in den Wanderzirkus, mit dem werweißwievielten Comeback nach einer dieser lästigen Verletzungen und Erkrankungen. Ob Kiefer selbst noch an einen letzten magischen Kraftakt glaubte, an eine glückliche „Mission Impossible“, blieb wie so vieles in seiner rätselhaften, wechselvollen Karriere ungeklärt – objektiv jedenfalls lag sowohl eine Teilnahme an den Olympischen Spielen wie eine Rückkehr in die Weltspitze außerhalb jeder vernünftigen Basis.
Nun, auf den letzten Drücker in diesem Jahr 2010, zieht Kiefer aus einer akuten oder doch schon etwas länger gewonnenen Einsicht die fälligen Konsequenzen: Wo nichts mehr zu gewinnen ist für den 33-jährigen Mann von Weltranglistenplatz 722, kann er es auch gut sein lassen im Profitennis und sich einem anderen Lebensabschnitt widmen. Einem Leben mit seiner Freundin Anna und dem am 11. August geborenen Töchterchen Mabelle Emilienne. Kurz und knapp und schließlich unsentimental lässt Kiefer den Vorhang fallen: „Es reicht.“ Statt wieder die Koffer zu packen und sich auf wenig aussichtsreiche Reisen zu begeben, will der Hannoveraner lieber alle mögliche Zeit seiner Tochter widmen: „Ich will zusehen, wie sie aufwächst. Ich will nichts verpassen.“
Der große Coup blieb aus
Kiefers beste und bessere Tage im Tourbetrieb liegen schon weit zurück, bei einem Blick in sein Arbeitszeugnis stellen selbst altgediente Wegbegleiter mit Erstaunen fest, dass der 33-jährige sein letztes Turnier im Oktober 2000 in Hongkong gewann. In seinen späteren Tennisjahren kämpfte Kiefer genau wie sein Landsmann Tommy Haas mit immer neuen Verletzungen, es folgte Comeback auf Comeback – und dann wieder ein Rückschlag. Selbst nach einer komplizierten Handgelenksblessur kämpfte sich der Niedersachse 2008 noch einmal zurück. Doch für einen ganz großen Coup konnte es nicht mehr reichen, für einen Masters- oder gar einen Grand-Slam-Sieg. „Ich weiß, dass ich viele Chancen liegen gelassen habe. Aber ich bin doch zufrieden mit dem, was ich erreicht habe“, sagt Kiefer.
Kiefer hatte das Talent und das künstlerische Handwerkszeug, um sich als Erbe von Boris Becker und Michael Stich auf höchstem Niveau zu profilieren. Doch psychisch war der in Holzminden aufgewachsene Profi zu labil – in einem Geschäft, in dem sich nur die Allerstärksten durchsetzen und vor allem jene, die über eine große mentale Robustheit verfügen. Kiefer war so oft ein Mysterium, für sich selbst, für seine Gegner, für die Öffentlichkeit – an guten Tagen bezwang er auch die Weltbesten mit einer so lässigen Selbstverständlichkeit, dass man glaubte, ein Grand-Slam-Erfolg sei bald die logische Konsequenz. Doch schon am nächsten Tag packte einen das Entsetzen, wenn Kiefer – nicht zum Angenehmen verwandelt – einem harmlosen Gegner den Sieg schenkte. Kam Kiefer dann nach einem dieser finsteren Tage zu Pressegesprächen, schaute er gar nicht in die Runde, fixierte grimmig den Fußboden, wirkte abweisend bis zur Unhöflichkeit. Er ärgerte sich freilich nicht über die mehr oder weniger intelligenten Fragen, sondern vor allem und immer noch über sich selbst, über die gerade erlittene Niederlage.
Früher Höhepunkt, große Pläne
Auch wenn es nicht so aussah, auch wenn Kiefer es nicht zugeben mochte: Für die Brutalität dieses Wanderzirkus, in dem es keine wirklichen Freundschaften gibt und jeder des anderen Gegner ist, war er nicht geschaffen. Innerlich schon früh verwundet, blieb er auch im Davis Cup unter seinen Möglichkeiten – in einem Wettbewerb, den er und sein Mitstreiter Haas eigentlich perfekt zur Bühne für eigene Profilierung hätten nutzen können. Statt großer Triumphe blieben leider nur Eifersüchteleien, Eitelkeiten und Egoismen in Erinnerung, und als es dann endlich ein rückhaltloses Bekenntnis zur Nationalmannschaft gab, war es zu spät für einen bedeutenden Erfolg. Immerhin verbündete sich Kiefer 2004 mit dem Nordhessen Rainer Schüttler zu einem starken Doppel außerhalb der Davis-Cup-Bühne – bei den Olympischen Spielen in Athen vergaben die beiden Partner vier Matchbälle zum Gold, bevor sie sich dann auch mit Silber zufrieden zeigten. „Die Medaille bewahre ich mir wie einen Goldschatz auf. Ich schaue sie immer mal wieder an“, sagt Kiefer.
Sechs Turniersiege, die Olympiamedaille, ein Grand-Slam-Halbfinale – als er 1995 zu den weltbesten Junioren zählte und die Nachwuchs-Grand Slams in Melbourne und New York gewann, hatte Kiefer sich seine Tennislaufbahn sicher auch noch anders erträumt. Mit jugendlichem Schwung und unter der Regie des Boris Becker-Teams startete er auch durchaus vielversprechend ins Erwachsenentennis, preschte 1997 ins Viertelfinale von Wimbledon vor. Die Times sah da schon die „Geburt des nächsten deutschen Superstars“. Doch ohne dass Kiefer und seine Fans es wussten, war bereits zwei Jahre später der Höhepunkt erreicht, auf dem heimischen Hannoveraner Expo-Gelände, wo Kiefer das Halbfinale der Tennis-WM erreichte und erst gegen den großen Pete Sampras ausschied. Er war da die Nummer 6 der Weltrangliste.
Abschied in Wimbledon
Ohne große Überzeugung tingelte Kiefer elf Jahre später, nach einer langen, auszehrenden Ochsentour und den ewigen Wechselfällen des Tennislebens, noch einmal ein wenig umher, spielte bei Challenger-Turnieren, nahm hier und da eine Wild Card an. So trat er auch in Halle, bei seinem Heimturnier auf der Tour, und in Wimbledon an. Dort, im All England Club, bestritt er sein letztes, unspektakuläres Match gegen den Spanier David Ferrer, verlor in drei Sätzen. „Es war ein schönes Leben im Tennis. Mit allen Höhen und Tiefen, die man erleben kann“, sagt Kiefer heute, „ich stehe zu dem, was ich gemacht habe.“
Und was kommt jetzt, nach dem Tennis - nach einem Leben, in dem es immer ein klares Ziel gab, ein Turnierergebnis, einen Platz in der Weltrangliste? Kiefer will sich der Familie widmen, „zuallererst und sehr intensiv.“ Und sich Zeit nehmen mit den Plänen für das nächste Leben, in das er zaghaft schon eingetreten ist mit einem Sportmanagement-Fernstudium. „Niemand drängt mich zu etwas“, sagt Kiefer.(Foto: J. Hasenkopf)