Novak Djokovic ist fantastisch, einzigartig, etc. - aber …
Schon frappierend, wie Novak Djokovic die Tenniswelt bei ihm wichtigen Turnieren immer noch in Schach halten kann.
von Jens Huiber
zuletzt bearbeitet:
12.06.2023, 17:06 Uhr
Im Amerikanischen spricht man Leuten, die sich Aufgaben zutrauen, an denen sie ganz sicher scheitern werden, unbegründeten Optimismus („unwarranted self confidence“) zu. Auf den Tennissport übertragen könnte man das vielleicht so veranschaulichen: Die Nummer 61 der Welt - wer auch immer das gerade ist (im Moment Juan Pablo Varrilas) - geht also in einem Grand-Slam-Match gegen Novak Djokovic auf den Court und ist davon überzeugt, dass er den serbischen Großmeister auch besiegen kann. Nun ist das Beispiel mit der Nummer 61 komplett willkürlich gewählt (Ehrenwort!), dass es ausgerechnet Varillas ist, passt aber ganz gut: Denn der Peruaner hatte im Achtelfinale von Roland Garros 2023 natürlich überhaupt keine Chance gegen Djokovic.
Die Frage ist: Wer hätte denn eine? Weil es müssen ja zwei Dinge zusammenkommen: der Glaube, Djokovic schlagen zu können. Und dann auch noch die Fähigkeiten - körperlich, mental, spielerisch - das auch zu schaffen.
Mit Blick auf die letzten Grand-Slam-Turniere ist die Liste jener Spieler, die all das mitbringen, extrem kurz: ein völlig fitter Rafael Nadal (werden wir das noch einmal erleben?) ist dazu in der Lage - und ein Daniil Medvedev in Hochform. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte man hier auch noch Dominic Thiem anführen können. Und nein: Carlos Alcaraz hat den Beweis bei einem Major noch nicht erbracht. Im vergangenen Jahr war Djokovic bei den US Open nicht präsent. Und die Sache mit den Ganzkörperkrämpfen am Freitag mutet dann doch etwas eigenartig an: Schließlich hatte Alcaraz davor jeweils immer nur drei Sätze zu absolvieren gehabt. Und nach dem zweiten Satz, den er noch dazu gewonnen hat, fährt dem Spanier plötzlich die Angespanntheit in die Glieder?
Andere Kandidaten drängen sich nicht gerade auf:
- Alexander Zverev hat Djokovic schon bei großen Gelegenheiten besiegt (etwa in Rom 2017, bei den ATP Finals, vor allem auch bei Olympia 2021); aber bei einem Major hat es nur zu einem knappen Halbfinale in New York City 2021 gereicht.
- Casper Ruud mag im ersten Satz des gestrigen Endspiels ein paar Chancen ausgelassen haben. Das war aber wohl einfach dem Umstand geschuldet, dass er gegen Djokovic viel mehr riskieren muss als gegen fast jeden anderen Gegner. Und Hochrisikotennis liegt nicht im Blut des Norwegers.
- Holger Rune hat möglicherweise die Waffen und das Selbstvertrauen. Aber von der Physis her trennen ihn Welten von Djokovic, genauso wie auf der mentalen Seite.
- Stefanos Tsitsipas ist ein dankbares Matchup für Djokovic, der Grieche hat ja auch viel zu sehr mit sich selbst und Spielern wie Alcaraz und Medvedev zu kämpfen.
- Jannik Sinner? Da kommt auch die psychologische Komponente ins Spiel: Genau wie Tsitsipas hat Sinner bei einem Major schon mal einen 2:0-Satzführung gegen Novak Djokovic nicht in einen Sieg verwandeln können. Nicht, weil Sinner im vergangenen Jahr in Wimbledon schlechter geworden wäre ab Durchgang drei - nein, Djokovic hat einfach sein Level noch einmal gehoben. So wie in den insgesamt sechs Tiebreaks in Roland Garros, in denen er keinen einzigen Fehler ohne Not fabriziert hat.
Darf der Graveur in Wimbledon also gleich den Namen der ab heute wieder Nummer eins der Welt in die Siegerliste einmeißeln? Die kurze Antwort: ja. Nur mit ganz viel Fantasie kann man sich irgendjemanden vorstellen, der mit Djokovic auf Rasen auf Augenhöhe agiert. Aber gut, hier wären zwei Vorschläge: Nick Kyrgios und Matteo Berrettini, jene beiden Männer, die Djokovic in den Wimbledon-Finali 2021 und 2022 besiegt hat. Mit der kleinen Fußnote, dass beide nach Verletzungspausen zurückkommen.
Novak Djokovic ist fantastisch, einzigartig, you name it. Aber es ist schon erstaunlich, dass er in seinem Alter die Tenniswelt bei ihm wichtigen Turnieren (also nicht Monte-Carlo oder Banja Luka) immer noch so beherrscht wie in Roland Garros 2023.