Roger Federer - Die beschwerliche Aufholjagd des Maestro
Erst nach zehn Matches würde er wissen, wo er steht, hatte Roger Federer vor seinem Comeback in Genf angekündigt. Das könnte angesichts des großen Ziels Wimbledon 2021 eng werden.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
20.05.2021, 08:11 Uhr

Roger Federer hatte sich noch ein bisschen Zeit genommen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Er saß am Dienstagnachmittag gemeinsam mit seinem Trainer Severin Lüthi und dem Olympiasieger von 1992, Marc Rosset, auf der Centre Court-Tribüne in Genf und beobachtete einen jungen Landsmann namens Dominic Stricker. Einen Satz lang schaute Federer dem 18-jährigen Teenager aus Bern zu, der letzten Herbst die Juniorenkonkurrenz der French Open gewonnen hatte. Beim Stand von 7:6 für Stricker gegen den Kroaten Marin Cilic verließ Federer seinen Tribünenplatz, schließlich war er nach dieser Partie selbst zum Einsatz gefordert. Er bekam nicht mehr mit, wie Stricker seine erste Partie auf der großen Tour sensationell mit 7:6 und 6:1 gewann – immerhin gegen einen ausgebufften Routinier wie Cilic, der schon einmal bei den US Open den Siegerpokal in die Höhe gereckt hatte. „Imposant“ sei der Erfolg gewesen, merkte Federer später an, „viel besser kannst du ja kaum loslegen.“ Zu diesem Zeitpunkt konnte Federer noch nicht ahnen, dass Stricker am Mittwoch gegen Marton Fucsovics gleich das nächste Ausrufezeichen setzen würde.
Lob in eigener Sache konnte Federer nicht verteilen an diesem denkwürdigen Tag, an dem er 2021 ein zweites Mal mit den Schwierigkeiten seines bisher heikelsten Comebacks konfrontiert war. Am Ende einer irritierenden Achterbahnfahrt bis zur 4:6, 6:4, 4:6-Auftaktniederlage gegen den Spanier Pablo Andujar stand für den 39-jährigen Maestro die Erkenntnis, „dass der Weg nach vorne noch sehr hart wird“: „Ich habe hier mehr von mir erwartet, es war vorher im Training auch schon besser.“ Federer hatte nicht mit durchgehender Stabilität und Sicherheit bei diesem ersten Saisonspiel auf Sand gerechnet. Aber hinterher wirkte er doch selbst überrascht von den Schwankungen, die seinen Auftritt geprägt hatten: „Eben bist du noch knapp vor dem Sieg. Und zehn Minuten später dann draußen. Das war schon brutal.“ 4:2 hatte er im dritten, entscheidenden Satz geführt, dann aber kein einziges Spiel mehr gewonnen. Geplatzt war damit, ganz nebenbei, auch ein mögliches Viertelfinalduell gegen seinen möglichen Erben Stricker, den neuen Hoffnungsträger, den Federer schon das ein oder Mal zu Sparringseinheiten auch in sein Zweitdomizil nach Dubai eingeladen hatte.
Federer braucht Matchpraxis
Stricker könnte die Zukunft des Schweizer Tennis sein, fast zweieinhalb Jahrzehnte nach Federers Debüt auf großer Tourbühne. Aber was ist Federers Status? Ist er etwa schon Vergangenheit? Oder doch noch Gegenwart, einer, der ein letztes Mal für einen Überraschungscoup bei seiner Rückkehr sorgen könnte? Soviel ist sicher: Es hat sich selten gelohnt, den eleganten Artisten und harten Arbeiter Federer abzuschreiben, er hat immer wieder die verrücktesten Inszenierungen auf den Centre Courts festgeschrieben, nicht zuletzt 2017, als er nach langer, langer Pause praktisch aus dem Stand die Australian Open gewann und ein Jahr später auch noch einmal Platz 1 der Weltrangliste eroberte. Aber nun ist Federer knapp vor seinem 40. Geburtstag, und die Auszeit, die er sich für zwei Knieoperationen nehmen musste, war so lang wie nie zuvor. In den letzten 15 Monaten hat er jetzt ganze drei Matches bestritten – und nur eins davon gewonnen, beim Turnier in Doha Anfang März.
Was Federer fehlt, ist Matchpraxis. Der Rhythmus ständiger Wettkampf-Herausforderung. Das Gefühl dafür, was er in welcher Spielphase riskieren kann – und was nicht. „Es ist erstaunlich, welche Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn man lange Zeit nicht mehr dabei gewesen ist“, sagte Federer bereits vor seinem Start im heimatlichen Genf. Er wisse, dass er noch „eine Menge“ aufholen müsse, auch Niederlagen wie gegen Andujar seien „ja irgendwie normal“: „Trotzdem ist die Enttäuschung da. Du gehst immer raus und willst gewinnen.“
Roland Garros oder doch lieber Halle?
Federers Terminkalender wird zunächst gut gefüllt sein. Er braucht ja Spiele, Spiele, Spiele, um aufzuholen gegen die enteilte Weltspitze. Außerdem ist da noch ein besonderer Termin in diesem Sommer, die Olympischen Spiele in Tokio. Federer will in jedem Fall im Einzel spielen, vielleicht auch noch im Mixed mit Belinda Bencic. Aber im Moment ist es noch weit entfernt für Federer: Seine ganze Hoffnung ist rasengrün. Wie so oft in seiner Karriere. „Direkt vor Wimbledon und in Wimbledon muss ich meine Bestform erreicht haben“, sagt er.
Es könnte sein, dass Federer jetzt auch noch einmal seine Planungen für die nächsten Wochen über den Haufen wirft. Eigentlich wollte er bei den French Open noch weitere Matches bestreiten, um für seine Kernmission in Schwung zu kommen – für ein starkes Gastspiel in seinem langjährigen Tennis-Paradies Wimbledon. Option 1: Ganz auf weitere Sandplatzauftritte und damit auf Paris verzichten, alle Energie sofort auf die Rasensaison lenken und zusätzlich zum fest eingeplanten Start in Halle auch in Stuttgart spielen. Option 2: In Paris antreten. Und dann je nach Abschneiden entweder spät mit Wild Card auf dem Weissenhof spielen. Oder früh nach Halle reisen und am Schauplatz von bisher zehn Turniererfolgen auf Rasen trainieren, mit anderen Profikollegen Übungseinheiten bestreiten.