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US-Open-Siegerin Naomi Osaka gewinnt weiter an Kontur

Naomi Osaka legt es nicht darauf an, anders zu sein. Sie ist einfach anders als die anderen im Zirkus der Tennis-Wanderarbeiter. Auch in ihrer letzten großen Stunde, in der Stunde ihres dritten Grand Slam-Sieges im dritten Grand Slam-Finale, war es wieder einmal so.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 14.09.2020, 12:26 Uhr

Naomi Osaka
© Getty Images
Naomi Osaka

Gut eine Minute war verstrichen nach ihrem 1:6, 6:3, 6:3-Erfolg über Viktoria Azarenka, da breitete sich die 22-jährige Japanerin sehr bedacht und keineswegs impulsiv auf dem harten Centre Court-Boden aus. Osaka blickte in den Himmel über New York, und als man sie später fragte, warum sie das getan habe, bekam man die erstaunliche Antwort: „Ich habe oft gesehen, wenn die großen Spieler zu Boden sanken nach ihren Siegen. Ich wollte immer schon mal sehen, was sie gesehen haben.“

Osaka ist eine außergewöhnliche Erscheinung im professionellen, auf den ersten Blick glamourösen Unterhaltungsbetrieb, im schillernden Tennis-Business zwischen Schein und Sein. Und fast paßt es zu ihrer unfreiwilligen Sonderrolle, dass sie nun schon zum zweiten Mal unter seltsamsten Bedingungen im US Open-Biotop triumphierte. Zuerst 2018, als siegreiche Nebenfigur während des Mordstheaters von Serena Williams in der tosenden Arena. Nun, im September 2020, als Gewinnerin des Geister-Grand-Slams, in einem verwaisten Stadion, in dem die Emotionen nur von den Hauptdarstellerinnen selbst erzeugt wurden. Osaka schien anfangs vor einem grotesken Untergang zu stehen, fast lustlos wandelte sie im größten, beinahe menschenleeren Tennisstadion der Welt umher. Dann jedoch entfaltete sie nach 1:6, 0:2-Defizit ihre unvergleichliche Power und Spielintelligenz, drehte die Partie scheinbar ohne Kraftanstrengung um. „Ich dachte irgendwann, dass es peinlich wäre, dieses Spiel unter einer Stunde zu verlieren.“ Also gewann sie es ganz einfach, als wäre nichts leichter in diesem Grand-Slam-Universum.

"Welche Botschaft ist denn bei Ihnen angekommen?"

Osaka hat das Talent, das Frauentennis der Zukunft an erster Stelle zu gestalten, wenn nicht gar zu dominieren. Zugleich wirkt sie als hellwache Persönlichkeit längst über die Grenzen ihrer Berufswelt hinaus, ihre selten, aber dafür umso effektiver eingesetzte Stimme zu gesellschaftlichen Problemen findet immer mehr Gehör. In einem Film hat sie vor kurzem einprägsam ihr Selbstbild erklärt: „Nur weil ich ruhig bin, heißt es nicht, dass ich keinen Einfluss habe. Nur weil ich bescheiden bin, heißt es nicht, dass ich nicht selbstbewusst bin.“

Bei den US Open kam sie zu ihren sieben Auftritten jeweils mit einer anderen Maske ins Stadion, stets war der Name eines schwarzen Opfers von willkürlicher Polizeigewalt aufgedruckt, im Finale der des 12-jährigen Tamur Rice, der 2014 in Cleveland erschossen worden war. Was sie mit dieser Aktion habe bezwecken wollen, fragte ESPN-Interviewer Tom Rinaldi nach dem Finale die Siegerin. Osaka antwortete: „Welche Botschaft ist denn bei Ihnen angekommen?“ Noch ein wenig später erläuterte sie ihre Mission so: „Ich will, dass die Menschen über dieses Thema reden.“ Über ein Thema, das sie am eigenen Leib erlebte, schließlich zog die Familie Osaka einst aus Japan nach Amerika, weil die Heirat von Mutter Tamaki mit einem Haitianer als „Schande“ galt. Die Kinder, Naomi und Mari, wurden „Hafu“ genannt, „Halbjapaner“.

Osaka bleibt Osaka

Osaka wirkte in den ersten Jahren im Profitennis immer etwas unergründlich, mysteriös, manchmal sogar weltentrückt. Schon immer aber war sie einer der spannendsten Figuren der Szene, eine sportliche Führungskraft wie kaum eine andere. Aber fast im gleichen Maße, wie sie die Herausforderungen auf der strapaziösen Tingeltour zusehends souveräner in den Griff bekam, sich auch nicht durch Rückschläge beirren ließ, reifte sie auch menschlich zu unübersehbarer, unüberhörbarer Größe und Stärke. „Viele neigen dazu, sie zu unterschätzen“, sagt die legendäre Altmeisterin Martina Navratilova, „trotz aller Erfolge. Trotz allem, was sie tut.“

Auch wenn viele an ihr zerren und etwas von ihr wollen, ob Sponsoren, Medien, die Spielerinnengewerkschaft, Turnierveranstalter oder neuerdings auch politische Akteure – Osaka, diese mädchenhafte Erscheinung mit den auffällig schwarzen Korkenzieherlocken und dem bronzefarbenen Teint, ist immer Osaka geblieben. Vorbei die Zeit, als man glaubte, Osaka sei eine Figur auf einem Schachbrett, umhergeschoben von mächtigen Einflussnehmern. Wo es lang geht, bestimmt nun oft genug sie selbst. Etwa beim Masters-Turnier von Cincinnati, das in der Woche vor den US Open auch in New York ausgetragen wurde. Osaka schloss sich damals -  nach dem Skandal um den von Polizisten sieben Mal in den Rücken geschossenen, schwerstverletzten Jacob Blake - den Protesten im US-Sport an, verweigerte ihren Halbfinalauftritt. Mit der Konsequenz, dass der gesamte Spielplan von den beteiligten Tennisfunktionären gestrichen wurde.

Als Osaka vom „Time“-Magazin einst in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt aufgenommen wurde, reagierte sie verlegen: „Keine Ahnung, weshalb das so ist.“ Auch das hat sich verändert, vor allem für die Welt jenseits des Centre Courts.

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von Jörg Allmeroth

Montag
14.09.2020, 17:56 Uhr
zuletzt bearbeitet: 14.09.2020, 12:26 Uhr

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