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US Open: Sören Friemel - der Mann, der Djokovic den Ausgang wies

Die Bilderbuch-Karriere des deutschen US Open-Oberschiedsrichters Sören Friemel, der sagt: "Die Menschen erwarten eine klare und gerechte Entscheidung von dir".

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 09.09.2020, 07:17 Uhr

Sören Friemel - seit Jahren einer der renommiertesten Offiziellen auf der Tour
© Getty Images
Sören Friemel - seit Jahren einer der renommiertesten Offiziellen auf der Tour

In dem Moment, in dem die ganze Tenniswelt auf ihn blickte, blieb Sören Friemel die Ruhe in Person. Friemel ist geschult darin, keine Emotionen zu zeigen, die Contenance zu wahren. Als einer der erfahrensten Referees des Wanderzirkus verfolgt er stets nur ein Ziel: Unbestechlich klar das Regelwerk zu vollstrecken, keine Unterschiede zwischen Superstars und scheinbar Namenlosen zu machen, Gerechtigkeit gegenüber jedem zu wahren, mit dem er zu tun hat. Und so behandelte der 49-jährige Münsteraner Novak Djokovic, den Nummer 1-Spieler der Branche, im Arthur Ashe Stadium so wie viele große und kleine, bekannte oder unbekannte Sünder vor ihm. Nämlich so, wie es die Tennisgesetze beschreiben. „Es gab gar keine andere Entscheidungsmöglichkeit als diese Disqualifikation“, sagt Friemel, der bei den US Open seit 2019 als verantwortlicher Oberschiedsrichter hinter den Kulissen wirkt – eher er nun in der Causa Djokovic auf einmal jäh ins Scheinwerferlicht rückte.

Friemel, einst ehrenamtlich in seiner Münsteraner Heimatregion als Schieds- und Linienrichter im Einsatz, hat eine atemraubende und keineswegs selbstverständliche Karriere hinter sich. Man kann ihn inzwischen ohne Übertreibung als einflussreichsten Unparteiischen der Welt bezeichnen, den Beinahe-Fünfziger, der Djokovic nach einer intensiven Diskussion, aber eigentlich ohne Zögern und mit selbstsicherer Bestimmtheit den Ausgang im Big Apple wies. Friemels Aufgabe als Regelhüter und Streitschlichter bei den US Open ist eigentlich ein Nebenjob, denn hauptsächlich wirkt der jugendlich erscheinende Deutsche beim Weltverband ITF in London als oberste Instanz für das globale Schiedsrichterwesen.

Sören Friemel - "Ich lebe meinen Traum"

Friemel kümmert sich bei der International Tennis Federation um die Schiedsrichterausbildung auf allen Kontinenten, aber er ist auch hin und wieder noch im geliebten Fronteinsatz, beispielsweise als Chef-Verantwortlicher bei Fed Cup- oder Davis Cup-Finals. „Ich lebe meinen Traum“, sagt Friemel. 2016 war er auch für den gesamten Schiedsrichtereinsatz bei den Olympischen Spielen in Rio tätig, eine Mammut-Aufgabe, bei der einiges auf seinem Flugmeilen-Konto zusammenkam. Friemel war im letzten Vierteljahrhundert fast nur im Tennis tätig, bis auf einen kurzen Abstecher ins Reitermekka Aachen – dort arbeitete er zwischenzeitlich mal im CHIO-Team von Michael Mronz mit.

Friemel hat beinahe jeden Stein im internationalen Tennisbetrieb umgedreht, er war auf allen Kontinenten unterwegs. Als Schiedsrichter stieg er bis zum sogenannten Gold Badge-Status auf, er gehörte damit einer kleinen Elitegruppe Unparteiischer an, die jederzeit für jedes Topmatch eingesetzt werden können. Viele Jahre wirkte der Münsteraner als Supervisor bei Wettbewerben aller Größenordnung, ob nun Grand Slams wie in Wimbledon, Paris oder New York, ATP-Spektakel wie in Halle/Westfalen. Oder eben auch Challenger-Turniere irgendwo in Deutschland. Die kleineren Events nimmt Friemel dabei regelmäßig genau so wichtig wie das ganz große Tennis: „Überall hast du es mit Menschen zu tun, die eine klare und gerechte Entscheidung von dir erwarten.“ Nur bei Länderspielen ist der Druck viel größer, wenn Friemel dort auf den Platz gerufen wird, weil Spieler und Schiedsrichter aneinander geraten sind, wenn Unvorhergesehenes passiert: „Im Davis Cup kochen die Emotionen hoch. Da spielt jeder nicht für sich, sondern für sein ganzes Land.“

"Tennis kann stolz auf Referees wie ihn sein"

Als Friemel vor einiger Zeit zu seiner leitenden Funktion bei den US Open gefragt wurde, da sagte er, es sei durchaus eine „besondere Herausforderung“ und auch eine „bewusste Entscheidung“ für diesen spektakulären Grand Slam: „Wer dort arbeitet, der will es auch.“ Friemel kennt das Turnier aus vielen Jahren natürlich ganz anders, bunt, laut, schrill, immer ein bisschen gaga und überdreht. Nun musste er, Pointe des ganzen Plots, den Frontmann des Herrentennis in der wegen Corona verwaisten Ashe-Arena vom Turnier ausschließen, weil Djokovic eben nicht einen der vielen tausend anderen möglichen Punkte für seinen Ballschuß anvisiert hatte. Sondern zufällig bei seinem Wutausbruch den Kehlkopf einer Linienrichterin traf. 

Es war Friemels wichtigste, folgenreichste Entscheidung in einer langen Laufbahn als Referee. Aber auch eine der selbstverständlichsten, was Sünder und Tatgeschehen anging: „Es ist egal, auf welchem Platz so etwas passiert. Und ob es die Nummer 1 oder ein anderer Spieler ist“, sagt Friemel, „davon darf man sich nicht beeinflussen lassen.“ Beim renommierten amerikanischen Internetportal „tennis.com“ hieß es zu Friemels Auftritt knapp und deutlich: „Das Tennis kann stolz auf Referees wie ihn sein.“

von Jörg Allmeroth

Mittwoch
09.09.2020, 13:45 Uhr
zuletzt bearbeitet: 09.09.2020, 07:17 Uhr