Der Tag, an dem Boris Becker und Steffi Graf deutsche Tennisgeschichte schrieben

Ein Erlebnisbericht von tennisnet.com zu den Wimbledonsiegen von Boris Becker und Steffi Graf am am 9. Juli 1989.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 09.07.2014, 07:13 Uhr

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Von Christian Albrecht Barschel

Wie die Zeit verfliegt! 25 Jahre, ein Vierteljahrhundert, ist es nun her. Es ist Sonntag, der 9. Juli 1989. Es ist der Tag, an dem deutsche Sport- und Tennisgeschichte geschrieben werden kann. Meine Augen sowie die von zahlreichen Sportfans sind in Richtung Wimbledon gerichtet. Deutschland ist im Tennisfieber, und ich bin es auch! Boris Becker und Steffi Graf stehen im Endspiel der All England Championships, dem bedeutendsten Tennisturnier der Welt. Aufgrund des typischen Londoner Schmuddelwetters der vergangenen Tage müssen das Finale bei den Herren und bei den Damen an einem Tag gespielt werden. Gibt es zwei deutsche Wimbledonsieger an einem Tag? Was das für den deutschen Sport bedeutet, ist mir nicht bewusst. Denn es sind nur noch wenige Tage bis zu meinem 9. Geburtstag. Tennis ist auf dem Weg, auf meiner Beliebtheitsskala mit Fußball gleichzuziehen. Ich bin zwar Fußballer durch und durch, aber die gelbe Filzkugel schlägt sich immer mehr in mein Sportlerherz. Mitglied in einem Tennisverein bin ich zwar noch nicht, ein paar Wochen später wird es aber endlich so sein. Schuld daran sind auch die Erfolge von unseren deutschen Sporthelden Boris und Steffi sowie solch legendäre Matches wie das zwischen Michael Chang und Ivan Lendl bei den French Open einen Monat zuvor .

Das Wimbledonturnier 1989 wird in Deutschland zum ersten Mal von einem Privatsender übertragen - von RTL. Die Auswahl der Fernsehsender in dieser Zeit ist sehr gering. Das Wort "Zapping" ist in Deutschland noch kein Begriff. Ich hänge während dieser zwei Wimbledon-Wochen an den Lippen von Ulli Potofski , Gerd Szepanski sowie dem Rest der RTL-Crew und verfolge die Matches an der weltberühmten Church Road von früh bis spät. Wimbledon ist Magie, das ist mir bereits als Kind bewusst. Dieser Magie kann ich mich nicht entziehen. An diesem 9. Juli 1989 ist das Wetter in Norddeutschland genauso wie in Wimbledon: kühl, grau und vom Sommer keine Spur. Ich bin am Finalsonntag mit einem Schulfreund verabredet - bei ihm zu Hause. Das große Problem: Er kann Sport nicht ausstehen, sowohl aktiv als auch passiv. Und auch seine Eltern sind richtige Sportmuffel. Finden die beiden deutschen Wimbledonfinals also ohne mich statt? Nein, tun sie nicht. Im Hause meines Schulfreundes wird der Fernseher angemacht und RTL eingestellt. Wahrscheinlich habe ich solange gequengelt, bis ich meinen Willen bekommen habe, oder die Eltern meines Schulfreundes waren sich der Bedeutung dieses Tages bewusst. Ich kann mich bis heute nicht daran erinnern, warum auf magische Weise der Fernseher anging und vereint Tennis geguckt wurde.

Graf mit Freudentränen, Becker startet furios

Gegen späten Mittag deutscher Zeit geht es dann endlich los. Den Anfang machen Steffi Graf und Martina Navratilova . Die Neuauflage des Vorjahresfinals ist ein Duell der Superlative: Golden-Slam-Gewinnerin gegen die Wimbledon-Rekordsiegerin. Natürlich drücke ich Steffi die Daumen. Und die "Gräfin" enttäuscht mich nicht - so wie nur ganz selten in ihrer glanzvollen Karriere. Nach einem Hänger im zweiten Satz heißt das Endergebnis 6:2, 6:7 (1), 6:1 für Graf. Steffi verdrückt ein paar Freudentränen nach der Titelverteidigung in Wimbledon. Die Pflicht ist also erfüllt, weil Graf die Favoritin in diesem Endspiel war. Folgt nun die Kür? Wenig später betreten Becker und Stefan Edberg den Platz. Auch dieses Match ist die Neuauflage des Vorjahresfinals, das Edberg gewinnen konnte. Der Schwede geht auch wegen der Erfahrungen aus dem Vorjahr als leichter Favorit ins Finale. Ich bin zwar großer Fan von Edberg, drücke aber Becker die Daumen. Boris legt los wie die Feuerwehr, zeigt Rasentennis in Perfektion und gewinnt den ersten Satz gegen den überfordert wirkenden Edberg mit 6:0. Ein 6:0 auf Rasen in einem Herren-Finale in Wimbledon - trotz meiner acht Jahre weiß ich, dass dies etwas Besonderes ist. In den nächsten Jahren sollten das auch die besten Rasenspieler Pete Sampras (1994 gegen Goran Ivanisevic ) und Roger Federer (2006 gegen Rafael Nadal ) schaffen.

Der sonst so emotionale Becker passt sich an diesem Tag dem Wetter in London an und spielt völlig unterkühlt - genauso wie sein Kontrahent, der stille Schwede Edberg. Auch den zweiten Satz dominiert Becker, verpasst aber das Break. Urplötzlich schafft Edberg das Break zum 6:5. Kommentator Gerd Szepanski fühlt sich schon bestätigt und erinnert sich an das vergangene Jahr, als Becker ebenfalls das Endspiel anderthalb Sätze dominierte und schließlich in vier Sätzen verlor. Edberg hat bei eigenem Aufschlag 40:0. Innerlich bin ich wie die meisten auf den dritten Satz eingestellt. Mit einem traumhaften Passierball wehrt Becker den ersten Satzball ab. Edberg kommt ins Grübeln und leistet sich vier unerklärliche Volley-Fehler in Folge. Es geht in den Tiebreak. Becker verliert zwar den ersten Punkt bei eigenem Aufschlag, spielt sich dann aber in einen Rausch. Mit sieben Punkten in Folge holt er sich den Tiebreak und den zweiten Satz. Das deutsche Wimbledon-Märchen nimmt konkrete Formen an.

Vom Becker-Fan zum Becker-Gegner

Becker bleibt auch im dritten Satz kalt wie eine Hundeschnauze und wehrt gleich zu Beginn mehrere Breakbälle ab. Bei 4:4 schlägt Becker dann zu und nimmt Edberg den Aufschlag ab, weil der Schwede einen Doppelfehler serviert. Der Rest ist Formsache. Mit einem Aufschlag-Winner verwandelt Becker seinen ersten Matchball zum dritten Wimbledonsieg und streckt seinen rechten Arm in die Höhe. Ich juble Becker aus der Ferne zu. Zwei deutsche Wimbledonsieger an einem Tag - das ist einmalig. Das hat es vorher nie gegeben und wird es auch mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr geben. "Wenn man als Spieler mittendrin ist, bekommt man die Bedeutung nicht mit, wie unglaublich dieser Tag für das deutsche Tennis war. Man schaute damals zunächst einmal auf sich. In dem Moment glaubt man, dass es nur alle paar Jahre vorkommt, dass ein Deutscher im Herreneinzel und eine Deutsche im Dameneinzel gewinnt. Das weiß man erst im Nachhinein einzuschätzen als in jenem Moment", erklärte Becker 25 Jahre später in Wimbledon.

Dabei wäre fast alles ganz anderes gekommen. Kurz nach der Siegehrung setzte der Londoner Regen wieder ein und hätte das deutsche Wimbledon-Märchen beinahe verhindert. Der 9. Juli 1989 ist ein ganz besonderer Tag in der deutschen Sportgeschichte. Vielleicht hat dieser Tag nicht die große Strahlkraft wie der 4. Juli 1954, als Deutschland mit dem "Wunder von Bern" das erste Mal Fußball-Weltmeister wurde. Aber für mich und das deutsche Tennis wird dieser Tag immer besonders bleiben. Ein Jahr später war es dann für mich vorbei mit der Herrlichkeit um Boris Becker. Ich wurde vom Becker-Fan zum knallharten Becker-Gegner, der anstatt mit ihm nun fieberhaft mit dessen Gegnern mitgezittert hat. Was Boris mir in meiner Kindheit angetan hat, dass ich ihn auf einmal nicht mehr mochte? Ich kann mich nicht erinnern. Eine Zeitreise in die Vergangenheit könnte mein Rätsel lösen. Die Liebe zu Becker war auf einmal verblasst, aber die Liebe zum Tennis ist bis heute geblieben.

von Christian Albrecht Barschel

Mittwoch
09.07.2014, 07:13 Uhr