London 2016 – Die letzte Chance für den „Maestro“?
„Es ist ein Jahr, wie ich es noch nicht kannte“: Roger Federers Saison ist geprägt von Verletzungen und Rückschlägen.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
26.06.2016, 09:34 Uhr

Vor Wimbledon ist es immer am schlimmsten. Die Spekulationen, das Geraune,die Gerüchte.Roger Federerweiß schon lange vorher, „dass dann wieder die ganze Palette an Fragen kommt“: Ist er zu alt geworden für die Weltspitze, ist er wirklich noch voll und ganz motiviert, nimmt ihn das Familienleben mit vier Kindern zu sehr in Beschlag? Federer saß vor ein paar Tagen im Spielerhotel der Gerry Weber Open in Halle, er hatte spielfrei, und als er vorausblickte zu den Offenen Englischen Meisterschaften im Südwesten Londons, sagte er kopfschüttelnd, er müsse vorher die „silly season“ überstehen, also die Saure-Gurken-Zeit vor dem ersten Ballwechsel und die Blicke in die Glaskugel von selbsternannten Federer-Astrologen – und das, was dann in Presse, Funk und Fernsehen draus gemacht wird. „Ich bin froh, wenn ich mein erstes Spiel habe, auf den Platz marschieren kann“, sagt Federer.
Ohne Saisontitel in die Mission achter Sieg
Federer hat natürlich selbst dafür gesorgt, dass rund um die Rasen-Festivitäten im All England Lawn Tennis and Croquet Club stets alle möglichen und unmöglichen Meinungen über ihn verbreitet werden – auch seit Jahren immer wieder die These, genau dies sei sein letztes Wimbledon-Turnier. Federer hat eine ganze Ära in Wimbledon geprägt, er ist ein Teil Wimbledons geworden, eine lebende Legende beim Turnier der Turniere, einer auch, den die Briten wie kaum einen zweiten ausländischen Spieler vor ihm ins Herz geschlossen haben. Fakt ist, Federer weiß es selbst nur zu gut und genau: Alles, was Federer tut, sagt oder lässt beim Thema Wimbledon, ist Meldung und Schlagzeile wert, heiße Nachrichtenware. „Ich wundere mich nicht darüber. Wimbledon ist nun einmal das Maß der Dinge“, sagt Federer, „und Wimbledon ist auch für mich der Gradmesser für die Saison. Wenn ich in früheren Jahren dort gewonnen habe, war die Saison immer in Ordnung für mich.“
Und nun, im Hier und Jetzt? Wäre Federer nicht Federer, der siebenmalige Champion und Publikumsliebling, dann wäre ein Auftritt abseits des ganz großen Rampenlichts und auch der ganz großen Erwartung gar nicht so abwegig. Federer hat ein Jahr der vielen Verletzungspausen hinter sich, große Teile der Saison 2016 hat er als unfreiwilliger Zuschauer erlebt. Erst in der Rasensaison hat er sich wieder so richtig im Tour-Betrieb zurückgemeldet, mit zweiHalbfinal-Teilnahmen bei den Wimbledon-Vorbereitungsturnieren in StuttgartundHalle. Bei beiden Wettbewerben unterlag er gegen Stars der NextGen, der nächsten und übernächsten Generation, dem ÖsterreicherDominic Thiemund dem DeutschenAlexander Zverev. Bevor er Halle verließ, sagte Federer, ganz Realist, ganz Pragmatiker: „Es ist ein Jahr, wie ich es bisher noch nicht kannte. Holprig, kompliziert, mit den Verletzungs-Enttäuschungen. Vieles ist neu für mich, auch die Tatsache, dass ich nach Wimbledon gehe, ohne einen Titel gewonnen zu haben in der Saison.“
Federer sieht sich „natürlich nicht in einer Favoritenrolle“
Federer hat noch eine weitere Schlussfolgerung aus dieser Serie 2016 deutlich angesprochen. Er fühlt sich für Wimbledon „natürlich nicht in einer Favoritenrolle“: „Ich glaube, da sindNovak DjokovicundAndy Murrayin einer anderen Situation. Auch, weil sie regelmäßig im Spielbetrieb drin waren.“ Was Federer nicht so offen sagte, was aber auch kein großes Geheimnis ist: Wimbledon kann dieser Saison einen neuen Dreh geben, kann zur Geschichte eines Umschwungs werden – und auch helfen, die weiteren Herausforderungen im Jahr mit mehr Selbstvertrauen und größerer Zuversicht anzugehen. „Wimbledon ist immer eine Inspiration für Roger, eine Art Kraftquelle. Eine Gelegenheit, das eigene Ego aufzuladen“, sagt der ehemalige australische Wimbledon-Champion und heutige TV-ExpertePat Cash, „man sollte nicht vergessen, dass Roger der Mann war, der Djokovic zuletzt am meisten bei den Titelläufen im Wege stand.“
„Wimbledon ist immer eine Inspiration für Roger, eine Art Kraftquelle.“
Pat Cash über Federer
Es hat auch mit der besonderen Wimbledon-Magie Federers zu tun, dass ihm in seinem einstigen Tennis-Paradies, diesem Garten Eden unter den Grand Slams, noch am ehesten ein weiterer Coup zugetraut wird – der 18. „Major“-Titel dann, ein Krönungsakt vier Jahre nach dem letzten Pokalgewinn im All England Lawn Tennis and Croquet Club. Damals trat Federer noch einmal in seiner Paraderolle auf, nämlich als Spielverderber für ganze Heere von Kollegen aller Gewichtsklassen – und 2012 ganz konkret im Finale für Lokalmatador Andy Murray. Die Siegesmission damals, sie war durchaus eine kleine Überraschung. Aber der Verblüffungseffekt wäre nun natürlich noch viel größer, in einem Jahr, das Federer als „teilweise eine Katastrophe für mich“ bezeichnet hat. Aber bei einem wie ihm weiß man nie.