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Wimbledon-Paradox: Russlands Medvedev wird mit einiger Sicherheit die Hackordnung nach Wimbledon anführen

Die Entscheidung von Wimbledon, keine Weltranglistenpunkte zu vergeben, kommt bei den Spielern nicht gut an. Kurios: Ausgerechnet Russlands Daniil Medvedev kann davon profitieren.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 22.05.2022, 20:42 Uhr

Daniil Medvedev trifft in der dritten Runde von Wimbledon auf Marin Cilic
© Getty Images
Daniil Medvedev

Wenn in den letzten Jahrzehnten ein Tennisprofi in Wimbledon gewann, wurde er gleich hinterher auf dem berühmten Centre Court gern gefragt, was dieser Sieg bedeute. Die Antwort kam prompt: Wimbledon sei das Turnier der Turniere, es gehe hier nicht vorrangig um das Preisgeld oder die Punkte in der Weltrangliste. Ein Triumph auf dem Heiligen Rasen sei für die Ewigkeit, Wimbledonsieger sei man sein Leben lang.

Ende Juni und Anfang Juli wird der All England Lawn Tennis and Croquet Club nun genau erleben, was die größten Champions immer wieder mit einem gewissen Pathos verkündet hatten: Ein Turnier, bei dem es neben dem Siegerscheck nur um die Ehre geht. Nicht um die Hackordnung in der Rangliste, um die Verteidigung, den Verlust oder den Zugewinn von Punkten. Denn Punkte werden 2022 nicht vergeben, als Konsequenz des einseitigen Ausschlusses von russischen und belarussischen Profis durch das Wimbledon-Management - wegen des Angriffskrieges in der Ukraine.

Seit die Spielerorganisationen ATP und WTA am Freitagabend ihren Entschluss verkündeten, ist die ohnehin schon gespaltene Tenniswelt so richtig in Aufruhr geraten. Dabei verlaufen die Zerwürfnisse keineswegs so geradlinig wie die markigen Statements der beteiligten Parteien vermuten lassen, allein bei der Herrengewerkschaft ATP sollen mehrere Dutzend Spieler gegen den Beschluss der eigenen Chefetage gewesen sein.

Djokovic verliert 2.000 Punkte

Die ATP/WTA-Begründung für den Punkteboykott, dass Spieler und Spielerinnen aus Ländern für (Kriegs-) Entscheidungen ihrer Regierungen zu Unrecht bestraft würden, führt nun zu einer sportlich breiten Verzerrung in der Weltrangliste – und zu einem an der Spitze paradoxen Ergebnis. Denn aller Voraussicht nach wird nach Wimbledon nun der Russe Daniil Medvedev die Tennis-Hierarchie anführen, also einer der Spieler, die gar nicht in Wimbledon antreten dürfen. Weil allen Spielern und Spielerinnen nach dem Rasenklassiker die im Vorjahr erkämpften Punkte gleichermaßen entzogen werden und keine neuen Punkte hinzukommen, verliert Titelverteidiger Novak Djokovic 2.000 Zähler und fällt mutmaßlich auf Platz 2 zurück. Djokovic kann dies nicht einmal mit Siegen bei den laufenden French Open und in London verhindern.

Erzürnte Profis meldeten sich übers Wochenende schon in sozialen Medien zur Wort, wie etwa der Ungar Marton Fucsovics. Er beklagte, er werde durch das punktelose Wimbledon in der Rangliste weit aus den Top 100 fallen. „Ist das Euer Ernst, ATP“, fragte er und fügte sarkastisch hinzu: „Vielen Dank.“ Der langjährige ukrainische Spitzenmann Sergej Stakhovsky klagte die ATP derweil mit den Worten an, er habe nie erwartet, dass die Organisation „an der Seite von Mördern und Invasoren“ stehe: „Zu sagen, dass ich enttäuscht bin, wäre eine Untertreibung.“ Sein ehemaliger Kollege Alexander Alexander Dolgopolov sah die „russischen Propagandamedien“ als „wahren Gewinner“ der Affäre: „Sie werden dies genüsslich ausschlachten, wieder und wieder.“ Wimbledon selbst hatte in einem Statement am Freitag noch einmal betont, man sei nicht bereit zu akzeptieren, „dass Erfolge oder Teilnahmen von der russischen Regierung genutzt würden.“

Besonders konsequent gingen ATP und WTA ohnehin in dieser Krisensituation nicht vor: Denn bei den britischen Vorbereitungswettbewerben auf Wimbledon, die ebenfalls Profis aus Russland und Belarus verbannten, werden die üblichen Ranglistenpunkte vergeben – mit der schalen Begründung, den Akteuren stünden in jenen Wochen alternative Spielmöglichkeiten zur Verfügung. Dabei können nur die wenigsten Spielerinnen und Spielern noch kurzfristig ihre vorgesehenen Turnierengagements tauschen.

Die Einmütigkeit der Spielerorganisationen in der Wimbledon-Causa kommt nach erschreckender Zerrissenheit in einer anderen Affäre: Als die Frauengewerkschaft WTA sich nach dem Vermissten-Fall der Chinesin Peng Shuai aus dem Riesenreich zurückzog und alle Turniere des Herbstes 2022 strich, tat die ATP-Herrentruppe mit ihrem italienischen Chef Andrea Gaudenzi außer ein paar wohfeilen Worten gar nichts – obwohl sie bei weitem nicht so abhängig ist von den Geschäftsaktivitäten in dem autokratisch regierten Land.

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von Jörg Allmeroth

Sonntag
22.05.2022, 20:41 Uhr
zuletzt bearbeitet: 22.05.2022, 20:42 Uhr

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