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„Unsterbliche Faszination“ – Der profitable Charme von Wimbledon

Wimbledon schafft den Spagat zwischen Tradition und Moderne und ist dabei kein seelenloses Kommerzunternehmen.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 04.07.2016, 08:08 Uhr

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LONDON, ENGLAND - JUNE 25: The Gentlemen's and Ladies' trophies are displayed on Centre Court during previews for Wimbledon Tennis 2016 at Wimbledon on June 25, 2016 in London, England. (Photo by Julian Finney/Getty Images)

Von Jörg Allmeroth aus London

Als der All England Lawn Tennis Club im Regenchaos dieses Wimbledon-Jahres seine Entscheidung verkündete, den spielfreien„Middle Sunday“zu opfern, entbrannte auf den Ticket-Plattformen im Internet sogleich die verrückte Jagd nach den unerwarteten Eintrittskarten. Für die gut 20.000 Tickets standen schließlich am digitalen Schalter mehr als 200.000 Fans an, binnen 27 Minuten war der gesamte Handel abgewickelt. „Es gibt Dutzende, Hunderte Turniere auf der Welt. Und es gibt Wimbledon“, sagt der frühere Bürgerschreck und Wimbledon-Anarchist John McEnroe, „die Faszination für diesen Grand Slam ist unsterblich.“ McEnroe, der einst das Establishment im grünen Garten Eden das Fürchten lehrte, lebt inzwischen selbst gut vom traditionsreichen Event: Als Kommentator für die BBC und den amerikanischen Kanal ESPN plaudert er pointenreich und stundenlang am Mikrofon, zudem berät er in diesem Jahr auch noch den kanadischen HammeraufschlägerMilos Raonicals Teilzeitcoach.

„Beliebigkeit kennt man hier nicht“

Nirgend sind Siege, Triumphe, Titelgewinnen größer als in Wimbledon, in diesem unverwechselbaren Theater der Tennis-Träume. Und nirgends ist das Scheitern bitterer als an der berühmten Church Road, dort, wo die Turniermanager auch ein florierendes Big Business etabliert haben – einträchtiger als an jedem anderen Grand-Slam-Standort, geschmeidiger und geräuschloser auch als bei anderen sportlichen Topevents. Was Wimbledons Magie ausmache, seinen Mythos, seine Anziehungskraft, hat der dreimalige Sieger Boris Becker vor einiger Zeit einmal sehr griffig beschrieben: Das Turnier verdiene gutes, sehr gutes Geld, sei aber „kein seelenloses Kommerzunternehmen“, außerdem sei man nicht bereit, jedem Trend hinterher zu rennen. Beckers Fazit damals: „Beliebigkeit kennt man hier nicht.“

Tatsächlich blickt man auch im Jahr 2016 etwas verwundert auf einen stolzen Schauplatz, an dem die Strahlkraft des Turniers selbst die diskreten Profite bedient. Wimbledons Einnahme-Portfolio speist sich aus dem Verkauf von exklusiven Ticketrechten an Fans und VIPs, dem Absatz von TV-Lizenzen rund um den Globus, der Partnerschaft mit einigen wenigen Sponsorunternehmen wie Rolex – aber eben nicht durch schrille Überflutung mit Werbebanden auf den Courts oder der Anlage. Auch die abenteuerlichen Dresses, die die Profis anderswo auf Betreiben ihrer Ausrüster gelegentlich tragen, haben keine Chance in London SW 19, hier gilt, wie immer und ewig, die Regel der vorwiegend weißen Bekleidung („predominantly white“). „Es ist fast beruhigend, dass hier nicht ständig alle möglichen Reize auf einen einströmen“, sagt die neunmalige Wimbledon-Königin Martina Navratilova, „Wimbledon – das ist auch ein Ort der Entschleunigung.“ Und, trotz aller Zurückhaltung, auch ein Ort der guten Geschäfte: Von Reingewinnen um 500.000 Euro Anfang der 80er Jahre sind sie nun bei ca. 65 Millionen Euro Nettoüberschuss im Jahr 2015 angelangt.

Neuer Slogan für die Einzigartigkeit

Gleichwohl nimmt das Management des Tennis-Klassikers den Kampf gegen große Mitspieler auf der Bühne des Weltsports an, Stillstand im Wirtschaftsbetrieb Wimbledon wäre „Rückschritt“, sagt der smarte Klubchef Phil Brooke. Das Turnier sieht sich auf bedeutenden Märkten wie Asien oder Nordamerika in direkter Konkurrenz mit Fußball-Welt und-Europameisterschaften, der britischen Premier League und den großen US-Ligen im Basketball, American Football oder Baseball. Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, wechselten die Wimbledon-Bosse 2016 ihren etwas betulichen, angejahrten Slogan „Tennis in einem englischen Garten“ aus, nun lautet das neue Marketingmotto: „In pursuit of greatness“ (Im Streben nach Größe“). „Das soll auch die Einzigartigkeit des Events besser zum Ausdruck bringen“, sagte der „Commercial und Media Director“ des Klubs, Mick Desmond, dem „Daily Telegraph“. Nach einer von Wimbledon in Auftrag gegebenen Studie interessieren sich rund eine Milliarde Menschen weltweit für das Turnier, 300 Millionen seien „regelmäßige Fans und Zuschauer.“ „Ziemlich gut“ seien die Zahlen, sagt Desmond, „aber wir können noch besser werden.“

Dabei werfen die „Herren des Rasens“ vor allem begehrliche Blicke auf die Wachstumsmärkte in Asien, speziell nach China. Als Na Li einst in der Weltspitze mitspielte, sogar Grand Slams gewann, verzeichnete man später bei Auftritten der populären Athletin in Wimbledon traumhafte TV-Quoten, teilweise schalteten sich 100 Millionen Menschen bei den Übertragungen zu. „Das Potenzial ist gewaltig. Wimbledon kann und will dort so populär werden wie beispielsweise der Super Bowl“, sagt der ehemalige Geschäftsführer des All England Club, Ian Ritchie. Noch präsenter als bisher schon soll die Marke Wimbledon werden im Reich der Mitte und anderen Schwellenländern, eine erste Offensive dorthin hatte bereits vor knapp zehn Jahren zur Eröffnung von Dutzenden Shops mit exklusiven Kleidungslinien Wimbledons und Geschenkartikeln geführt. „Wimbledon schafft den perfekten Spagat zwischen Tradition und Moderne. Und es wird immer weiter wachsen, ohne seine Identität zu verlieren“, sagt einer der größten Wimbledon-Helden, der Schwede Björn Borg.

von tennisnet.com

Montag
04.07.2016, 08:08 Uhr