Federer gegen Reister
Ein Rendezvous wie im Märchen, ein Match gegen das eigene Idol - Julian Reister trifft auf Roger Federer.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
27.05.2010, 11:43 Uhr

Von Jörg Allmeroth, Paris
Im Pariser Luxuspalast „Crillon“ genießt Roger Federer in diesen French-Open-Tagen den standesgemäßen Fünf-Sterne-Service eines Superstars. Eine ganze Zimmerflucht hat der Weltranglistenerste für sich, seine Familie und die Tennis-Entourage angemietet, das ebenso beflissene wie diskrete Personal liest dem Tross aus der Schweiz jeden möglichen Wunsch von den Lippen ab.
Reister will sich ein iPhone kaufen
Nahe des Messegeländes im Süden der französischen Kapitale logiert dagegen Julian Reister: Der 24-jährige Reinbeker ist Selbstversorger in einem modernen, schmucklosen Apartmenthotel, das zwischen den Zentralen von TV- und Telekommunikationsfirmen liegt. Wenn Reister abends zum Essen marschiert, zum drei Minuten entfernten Italiener, kennt ihn kein Mensch. Er braucht auch keine Leibwächter wie sein großes Idol, wie jener Roger Federer, dem er am Freitagmittag auf dem Centre Court des Stade Roland Garros begegnen wird. In einem Drittrundenspiel zwischen einem Mann, der in seiner Karriere schon fast 56 Millionen Dollar verdient hat. Und einem Herausforderer, der sich nach dem schon sicheren Preisgeldscheck von 43.000 Euro, dem größten seiner Karriere, darüber freut, sich jetzt „endlich mal das neue iPhone kaufen zu können.“
Wie Reister geht es derzeit vielen im Tenniszirkus. Sie haben ihre Träume als Profi, manche sind realistisch, manche unrealistisch. Ein Turniersieg auf der großen Tour, ein Platz unter den Top 100, vielleicht sogar der Sprung unter die besten 50. Geht es dann zu einem Grand-Slam-Turnier, müssen sich die Wünsche den Realitäten anpassen: Wo ein Triumph ganz und gar in utopischer Ferne liegt, bleibt doch wenigstens die Sehnsucht nach einem großen Gegner – Rafael Nadal oder, mehr noch, Roger Federer. „Es ist unglaublich, gegen einen Spieler auf den Court zu gehen, der einfach der Beste aller Zeiten ist“, sagt Reister, der gegen Federer schon das sechste Spiel auf einem roten Pariser Tennisfeld bestreitet.
Parallel-Universen in Paris
Dreimal hat er sich durch eines dieser undankbaren, unspektakulären Qualifikationsmatches gekämpft, letzte Woche, und nun rückt er allmählich immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit: Erstrundensieg gegen den haushoch favorisierten Spanier Feliciano Lopez, Zweitrundenerfolg gegen den gefährlichen Kampfzwerg Olivier Rochus aus Belgien. Und nun, als Krönung der „besten Zeit, die ich je als Tennisspieler hatte“, das märchenhafte Rendezvous mit einem, den er oft wie der normale Fan auch nur im Fernsehen oder in den Zeitungen zu sehen kriegt. „Roger lebt in einer anderen Welt als ich“, sagt Reister. Schließlich ist er, der „aufgeschlossene, nette Hamburger Jung´“ (Reister über Reister) bisher meist in der zweiten Liga der Branche unterwegs gewesen, bei Challenger- oder Satellite-Turnieren, an exotischen Standorten mit eher rustikalem Charme. Platz 1 und Platz 165 in der Weltrangliste: Es scheint nicht unmenschlich weit auseinander, doch es sind zwei Parallel-Universen, in denen sich Federer und Reister aufhalten.
"Julian hat seine beste Zeit noch vor sich"
Einmal sind sie sich begegnet, der Basler und das Nordlicht, 2008 am Hamburger Rothenbaum. Federer brauchte einen Sparringspartner zum Einschlagen, Reister erhielt einen Anruf, und dann spielte man sich eine halbe Stunde lang die Bälle zu. Federer entspannt und cool, in langen Hosen. Reister fiebrig nervös und bemüht, bloß keine schlechte Figur abzugeben. Federer ist sein großes Vorbild, als Sportler, aber auch als Mensch: „Er ist keiner, der sich wichtig nimmt, weil er ein so guter Tennisspieler ist. Er ist immer freundlich.“ Auch Reister grüßt der Schweizer stets mit einem „Hallo“ in der Spielerlounge, obwohl der Nobody aus Deutschland sicher ist, „dass Roger nicht wirklich weiß, wer ich bin.“
Soll er ihn am Freitag nun mal so richtig kennenlernen, im Duell da draußen auf dem Hauptplatz? Reister ist entwaffnend ehrlich: „Eigentlich will ich gar nicht, dass er verliert. Das würde mich traurig machen“. Er dürfte so etwas natürlich nicht sagen, es klingt ein wenig unprofessionell, aber „es ist eben so, wie ich fühle.“ Auch als Reister gefragt wird, welche Schlagzeile er demnächst noch über sich lesen möchte, kommt er nicht auf das buchstäblich Naheliegende. „Reister erreicht das Hauptfeld der Australian Open 2011“, sagt er. Und was wäre mit „Reister stürzt Federer“? Da sagt Reister: „Das wird sicherlich nicht passieren.“ Er sei keiner, „der Illusionen nachhängt“: „Überraschungen kann man nicht herbeireden. Man kann sie feiern, wenn sie passieren.“
Allerdings: Die größte deutsche Überraschung bei den French Open des Jahrgangs 2010 ist dieser Reister schon jetzt, ein Spieler, der schlagartig erkannt hat, welches Potenzial in ihm steckt. Und dass er mit seinen 24 Jahren keineswegs zu spät dran ist, um noch etwas Großes bewegen zu können im Nomadenbetrieb der Profis. „Manchmal habe ich unfassbar gut gespielt in den letzten Tagen“, sagt Reister, „mit dieser Qualität kann ich viele in Schwierigkeiten bringen.“
Polizist, Feuerwehrmann, Lokführer wollte er nie werden als Kind, immer schon Tennisspieler. Mit fünf hielt er den ersten Schläger in der Hand, nach der Realschule dann konzentrierte er sich ganz auf seine Tennis-Karriere. Bisher ist er nur so „über die Runden gekommen“, 170.000 Dollar Preisgeld im ganzen Profileben, das erlaubt keine großen Sprünge. Paris könnte - egal, was noch passiert - nun der Durchbruch sein, die Initialzündung, ein Befreiungsschlag: „Julian hat seine beste Zeit noch vor sich“, sagt Davis-Cup-Teamchef Patrik Kühnen.
Zur Verabredung mit Federer, dem Idol, kommen am Freitag auch Mutter Sylvia, Bruder Benjamin und Freundin Isabelle. „Respekt“ habe er vor Roger, sagt Reister, „aber keine Ehrfurcht“. Und dann denkt er noch mal drüber nach, ob er traurig wäre, wenn Federer verlöre: „Wahrscheinlich doch nicht.“