tennisnet.comATP › Olympia

Alexander Zverev nach Olympiasieg: „Dieses Gold gehört ganz Deutschland“

Auch als sich die Nacht über Tokio gesenkt hatte, war die ganze Größe dieses Tages und Triumphes noch nicht völlig eingesunken bei Alexander Zverev.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 01.08.2021, 15:16 Uhr

Alexander Zverev
© Getty Images
Alexander Zverev

„Ganz weg“ sei er irgendwie, sagte der Goldmedaillengewinner irgendwann bei seinem Interview-Marathon für Presse, Funk und Fernsehen und schüttelte ein weiteres Mal ungläubig den Kopf: „Es ist absolut unfassbar. Ich bin Olympiasieger. Ist das jetzt wirklich wahr?“

Das war es. Und zwar ohne jeden Zweifel in einem spektakulären Finalduell, das nichts weniger als eine Sternstunde für Zverev war. Für ihn, den Hochbegabten, aber bisher oft Unvollendeten. Aber auch für das deutsche Tennis und für das gesamte deutsche Olympiateam, das in den ersten Tokio-Tagen so manchen Tief- und Rückschlag zu Lande und im Wasser hatte einstecken müssen.

6:3 und 6:1 gewann der 24-jährige Hamburger an diesem denkwürdigen 1. August 2021 in bloß 69 Minuten gegen den Russen Karen Khachanov, der deutsche Frontmann ließ dabei die Schwere der Herausforderung spielerisch leicht aussehen und zeigte im wichtigsten Match seiner Karriere eine der stärksten Leistungen seiner Karriere. Genau um 18.37 Uhr Ortszeit sank Zverev auf dem olympischen Centre Court glückstrunken zu Boden, und 20 Minuten später baumelte schließlich die Goldmedaille um seinen Hals. 

Mischa lobt Sascha Zverev: "Bin selbst platt, was er da hingelegt hat"

Zverevs unwahrscheinliches Olympia-Märchen war perfekt, der erste deutsche Sieg seit dem Doppelerfolg von Boris Becker und Michael Stich 1992 in Barcelona. Und der erste Einzeltriumph seit dem legendären Auftritt von Steffi Graf 1988 in Seoul. „In einer Reihe mit diesen Spielerinnen und Spielern zu stehen, ist überwältigend“, sagte Zverev, „es ist ein Tag, den ich nie vergessen werde.“ Sein Bruder habe „wie vom anderen Stern“ gespielt, befand derweil im Münchner Olympia-Studio von „Eurosport“ Mischa Zverev, „ich bin selbst platt, was er da hingelegt hat.“

Auf der Zielgeraden dieses olympischen Wettbewerbs war der jüngere Zverev tatsächlich die alles überstrahlende Figur – ein Mann, der auf einer Goldmission unterwegs war und sich von nichts und niemandem mehr bremsen ließ. Auch nicht vom vermeintlich unschlagbaren Capitano Novak Djokovic, dem er nach einem 1:6, 2:3-Rückstand noch eine traumatische Halbfinal-Niederlage beibrachte. Oft landen Tennisspieler nach einem solchen Höhenflug unsanft in der Alltagsrealität, gegen den nächsten, mutmaßlich leichteren Gegner ist eine Niederlage schnell kassiert. Aber Zverev diktierte das Finalmatch gegen Khachanov auf grandiose Weise, er spielte von der ersten bis zur letzten Minute mit innerer Überzeugung, Leidenschaft, Präzision und unerbittlicher Power. 

Alexander Zverev: "Die beste Woche meines Lebens"

Vor knapp einem Jahr hatte Zverev bei den US Open den ersten Grand-Slam-Titel höchst unglücklich verpasst, nach dominantem Spiel und 2:0-Satzführung gegen den Österreicher Dominic Thiem unterlag der Deutsche noch in einem bitteren Fünf-Satz-Drama. Gegen Khachanov gab es auf der globalen Olympia-Bühne nach klarem Vorsprung indes kein Zittern, Zaudern oder Zagen, niemals gab der Deutsche seine zupackende, selbstbewusste Attitüde auf. „Dieser Sieg ist eigentlich der größte Sieg, den du feiern kannst“, sagte Zverev später, „ich habe mir noch nicht mal vorstellen können, Olympiasieger zu sein. Das entschädigt für alles, was ich in meiner Karriere auf mich genommen habe. Es war einfach die beste Woche meines Lebens.“

Zverev wirkte bei seiner Goldschürfung von Anfang an auch inspiriert vom olympischen Gefühl. Der Hamburger wird zu leicht als kalter Egomane oder selbstbezogener Multi-Millionär abgestempelt, dabei ist er im Grunde seines Herzens ein absoluter Teamplayer. Er fühlte sich in der Vergangenheit stets wohl mit den Kumpels aus dem deutschen Tennis, wenn es zu Davis-Cup-Auftritten oder Matches beim ATP Cup ging, einem anderen Mannschaftswettbewerb. In Tokio genoss Zverev das Leben in der Olympia-WG, die Begegnungen mit anderen Sportlern. „Jeder, der nicht bei den Spielen dabei ist, hat etwas Großes verpasst“, sagte Zverev, nun der erste deutsche Herren-Einzelsieger. Auch er hatte sich, wie etwa Tommy Haas oder Nicolas Kiefer, stets die Vergleiche mit den inzwischen Alten Herren Becker und Stich anhören müssen, nun hat er den beiden Wimbledon-Champions selbst etwas voraus.

"Diese Medaille gehört ganz Deutschland"

Dieser 1. August kann auch eine Zäsur in Zverevs komplizierter und bewegter Karriere sein – ein Tag, der ihn und die sportinteressierte Öffentlichkeit in Deutschland miteinander versöhnt. Zverev war in jungen Jahren von seinem ehemaligen Manager Patricio Apey aufs falsche Gleis gesetzt worden, der Geschäftemacher sah schon den Teenager als Weltstar, den es auf den großen Märkten zu präsentieren galt. Deutschland galt als Nebenschauplatz, die deutschen Medien waren zu vernachlässigen. So setzte sich ein öffentliches Bild von Zverev fest, in dem er nicht wirklich zu seinem Geburts- und Heimatland dazugehörte, wie ein Fremdkörper wirkte. Erst seit die Geschäftsangelegenheitern auch in Familienhand sind, allem voran bei Bruder Mischa, ist Zverev auf einer Art Versöhnungstour mit den Fans hierzulande – auch wenn immer noch Raum für emotionale Steigerungen geblieben ist. In Tokio jedenfalls widmete Zverev seinen Sieg dem ganzen deutschen Team und den „Fans, die sich das zuhause angeschaut haben“: „Ich habe keine Sekunde nur für mich gespielt, sondern für ein ganzes Land. Diese Medaille gehört nicht nur mir, sondern ganz Deutschland.“

Als Zverev das sagte, wirkte er wie von einer Last befreit – wie ein Mann, der endlich den riesengroßen Ballast abgeschüttelt hat, den er seit seinen ersten Auftritten im Tenniszirkus mit sich herumschleppen musste. Als großes Talent, als kommender Grand-Slam-Champion und Weltranglisten-Erster war er serienweise gehandelt worden. Er gewann auch früh Titel, wurde sogar mit 21 Weltmeister der ATP-Profis an einem November-Wochenende in London, an dem er im Halbfinale und Endspiel Roger Federer und Novak Djokovic schlug. Der ganz große Grand-Slam-Coup blieb aber aus, dieser Triumph, der ein Tennisleben verändern, der viel Druck und Anspannung lösen kann.

Gewissheiten gibt es keine in der brutalen Welt des Profitennis. Aber mit seinem Olympiasieg hat sich Zverev die verlockende Chance eröffnet, künftig etwas leichter durchs Tourleben zu gehen. Vielleicht so wie einst Schottlands "Braveheart" Andy Murray, der nach seinem Olympiasieg 2012 in London erst so richtig durchstartete und schnell die ersten Grand-Slam-Titel einsammelte.

Verpasse keine News!
Aktiviere die Benachrichtigungen:
Zverev Alexander

von Jörg Allmeroth

Sonntag
01.08.2021, 15:44 Uhr
zuletzt bearbeitet: 01.08.2021, 15:16 Uhr

Verpasse keine News!
Aktiviere die Benachrichtigungen:
Zverev Alexander