Ohne Plan und Ordnung

Die French Open sind so unberechenbar wie das Wetter. Die Randfiguren mobilisieren den Aufstand der Underdogs.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 03.06.2010, 12:56 Uhr

Von Jörg Allmeroth, Paris

Mit wüsten, wilden und manchmal auch spitzen Kampfschreien untermalte sie ihren verzweifelten Grand-Slam-Kampf auf dem sonnigen „Court Central“. Doch letztlich reichte auch das schrille, einschüchternde Begleitkonzert nicht aus, um den Untergang auf dem Roten Platz zu vermeiden: Auch Serena Williams, die stolze Nummer 1 der Welt, reihte sich mit ihrer 2:6, 7:6 (7:2), 6:8-Viertelfinal-Niederlage gegen die solide australische Tennis-Handwerkerin Samatha Stosur nur in die Galerie gestrauchtelter Größen bei diesem Major-Wettbewerb ein.

Nummer 1 bei Frauen und Männern raus - in weniger als 24 Stunden

Bei den French Open 2010 herrscht Anarchie im Grand Slam-Betrieb, die angestammte Hackordnung gilt fast gar nichts mehr: Schon in den düsteren Abendstunden des Dienstags hatte Maestro Roger Federer sein letztes Stündlein gegen den brachial draufhauenden Schweden Robin Söderling erlebt, statt einer erfolgreichen Titelverteidigung begab sich der Schweizer Meisterspieler in Richtung Ostwestfalen, zum Kraftauftanken ins Grüne, zu den anstehenden Gerry Weber Open in Halle. Beide Nummer 1-Spieler rausgeschmissen in weniger als 24 Stunden – es fügte sich ins Bild dieser revolutionär überraschenden Festspiele, bei denen nichts nach Plan und Ordnung verlief, bei denen zwischenzeitlich auch acht Tage lang deprimierendes Herbstwetter Spielpläne und Stimmungen durcheinander wirbelte. „Ein Turnier ohne Gewissheiten“, erkannte da der Londoner „Independent“.

Nadal die einzige Konstante

Wo sich jahrelange Randfiguren der Branche wie Samantha Stosur, ewige Talente wie Tomas Berdych und hartnäckige Oldies wie Jürgen Melzer auf einmal kollektiv zum Durchbruch auf großer Bühne aufrappelten, blieben die Etablierten massenweise auf der Strecke: Unter den acht Halbfinalisten in beiden Einzelkonkurrenzen befand sich nur noch ein Grand-Slam-Gewinner – Rafael Nadal, der Matador aus Mallorca. Die einzige Konstante im sonst ziemlich erfolgreichen Aufstand der Tennis-Underdogs. Geschichten lieferten nicht die fabelhaften Williams-Schwestern, die weit davon entfernt waren, in einem familiären Endspiel-Duell um Titel und Ranglistenführung anzutreten. Sondern plötzlich zähe, unverdrossene und unprätentiöse Spielerinnen wie die Italienerin Francesca Schiavone, die als erste Tennis-Weltreisende ihres Landes ein Grand-Slam-Halbfinale erreichte.

Sandplatztennis wie früher als großer Gleichmacher

In den letzten Pariser Grand-Slam-Jahren widerlegten Federer und Nadal die Branchenthese, wonach Sand der große Gleichmacher im Tennis sei und die Klassenunterschiede eher nivelliere als ausbaue. So stabil wie in Wimbledon traten beide auch im Stadion Roland Garros zu den Finals an, nur im letzten Jahr katapultierte Söderling den verletzt angeschlagenen, überspielten Nadal aus dem Turnier heraus. Im Jahr 2010 ist Söderling nun mit seinem Federer-Coup keineswegs allein auf weiter Flur, denn wie schon vor der großen Federer/Nadal-Rivalität ist in Paris fast alles möglich, wie ehedem, als Champions wie der Argentinier Gaston Gaudio oder die Russin Anastasia Myskina gekürt wurden. Champions, die heute schon keiner mehr kennt.

Wilander: "Die Hierarchie ist auf Sand nicht gefestigt"


Außenseiter, Spitzenreiter – warum auf einmal soviele Knalleffekte im konfusen Paris? „Viele haben gesehen, dass die Topleute nicht in der überragenden Form der letzten Jahre waren. Federer, Serena, auch Nadal. Da glaubt man einfach mehr an eine Überraschung", sagt Mats Wilander, der Chefanalaytiker der French Open, der ehemalige Sieger, „die Hierarchie ist auf Sand keineswegs so gefestigt, wie es den Anschein hat.“ Den besten Beleg lieferte dafür der Schotte Andy Murray: Daheim einfach nur zum potenziellen Titelkandidaten hochgejubelt, weil er eben auf Platz 4 der Tennis-Hitparade steht, verlor er sang- und klanglos, völlig uninspiriert gegen den Tschechen Berdych. Da sah Djokovic, die Nummer 3, schon wesentlich besser, aber auch nicht erfolgreicher aus gegen den überragenden Melzer. „Man muss sich vor Augen halten“, befand Österreichs Altmeister Thomas Muster, „dass im Herrencircuit täglich jeder jeden schlagen kann in den Top 100. Auf Sand noch eher als anderswo.“

Henin: "Erst einmal wieder die Tücken in den Griff bekommen

Selbst Justine Henin (Belgien), die Frau mit dem Sieger-Gen für Paris, machte auf halber Strecke schlapp. Die aussichtsreichste Kandidatin für die Suzanne-Lenglen-Trophäe wusste aber ausnahmsweise ganz genau, wie ihr geschah: „Viele dachten, ich könnte hier gleich wieder von Null auf Hundert springen. Ich manchmal auch“, sagte die Wallonin, „aber diese French Open haben unglaubliche Tücken, die ich erst wieder in den Griff kriegen muss.“ Und mit diesem Schlusswort war sie in guter Gesellschaft in Paris.




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Donnerstag
03.06.2010, 12:56 Uhr