ATP-Statistik-Guru Craig O´Shannessy: „Carlos Alcaraz ist ein Jahrhundert-Phänomen“

Carlos Alcaraz steigt am heutigen Sonntag in die French Open 2022 ein. Ein Spieler wie der 19-jährige Spanier kommt nur alle heiligen Zeiten um die Ecke, meint Craig O´Shanessy, der Statistik Guru der ATP, im Interview mit tennisnet.com.

von Jens Huiber
zuletzt bearbeitet: 23.05.2022, 13:04 Uhr

Für Craig O´Shannessy gibt es bei Carlos Alcaraz keine Limits
© Getty Images
Für Craig O´Shannessy gibt es bei Carlos Alcaraz keine Limits

tennisnet: Mr. O´Shannessy. Sie sind ein ein Weltreisender in Sachen Tennis. Gibt es auch Berührungspunkte mit dem deutschsprachigen Raum?

Craig O´Shannessy: Ich bin Australier und habe in den USA College-Tennis gespielt. Und für zwei Sommer habe ich an einem kleinen Ort mit dem Namen Basinghausen Clubtennis in Deutschland gespielt. Und zwar für Rot-Weiß Basinghausen, ein paar Kilometer nur von Hannover entfernt. Ich habe meine Zeit dort absolut geliebt. Ich habe bei einem Club gearbeitet, der „Old California Tennis Camp“ hieß. Kim und Scott Wittenberg haben dort gelehrt, Scott ist immer noch da. Ab und zu komme ich immer noch zurück und besuche ihn. Und habe auch dabei geholfen, seinen Sohn in einem US-College-Team unterzubringen.

tennisnet: Was haben Sie an Deutschland besonders gemocht?

O´Shannessy: Deutschland unterscheidet sich von Australien so sehr! Bei uns haben wir so viel Platz und alles verteilt sich, nichts ist wirklich organisiert. In Deutschland dagegen ist alles gut organisiert.

tennisnet: Würden Sie nach Ihren Erfahrungen jedem jungen Tennisspieler empfehlen, an ein US-College zu gehen?

O´Shannessy: Absolut jedem oder jeder. Ich habe vor kurzem eine Studie gesehen, die das belegt hat. Der einzige Fall, wo man ganz sicher sagen kann, dass man nicht zum College sonder direkt zu den Profis gehen soll, ist jener, wenn jemand zwei Grand-Slam-Turniere bei den Junioren gewonnen hat. Zwei. Nicht nur eines. Es gibt genügend Jugendliche, die ein Major gewonnen haben und schon früh aufgeben mussten. Der Trend in unserem Sport geht dahin, dass die Spieler in den Top 100 immer älter werden, bis tief in ihre 30er-Jahre hinein spielen. Es kommt sehr selten vor, auch wenn wir gerade Carlos Alcaraz haben, dass man mit 18,19 oder 20 bereit für die Tour ist. Die physischen Anforderungen sind viel höher, die Erfahrung wird immer wichtiger.

"Alcaraz ist eine Mischung aus Federer, Nadal und Djokovic"

tennisnet: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

O´Shannessy: Geht auf ein College, auf ein gutes College. Dort bekommt Ihr großartiges Coaching, wunderbare Möglichkeiten in Sachen Fitness. Und viele Colleges helfen ihren StudentInnen jetzt schon finanziell dabei, dass diese während ihrer College-Zeit auch Turniere spielen können. Früher war es entweder oder. Jetzt lässt sich beides verbinden. Cameron Norrie war ein College-Player und ist jetzt nah an den Top Ten. Was für ein Botschafter für TCU und David Roditi, den dortigen Coach!

tennisnet: Sie haben Carlos Alcaraz erwähnt. Was sehen Sie in ihm?  

O´Shannessy: Alcaraz ist ein Jahrhundert-Phänomen. Und er ist erst 19 Jahre alt. Er ist eine perfekte Mischung aus Federer, Nadal und Djokovic. Er hat den Kampfgeist, die Einstellung von Nadal. Diese Fähigkeit, die Ruhe zu bewahren, Probleme auf dem Court zu lösen. Zwischen den Punkten sieht er genau wie Rafa aus. Novak ist ganz offensichtlich sein Vorbild für das Spiel von hinten. Wenn man Alcaraz zuschaut, muss man auf seinen Schwerpunkt, seinen Körper achten. Er verliert nie die Balance, er fliegt nicht herum. Er ist immer sehr stabil und rotiert immer mit genau der richtigen Dosis. Er übertreibt es nicht wie manche andere Spieler. Er hat die Kunst gemeistert, einen Tennisball unwirklich hart zu schlagen und trotzdem ins Feld zu treffen. So etwas haben wir seit Novak nicht gesehen, dass jemand den Ball so clean trifft wie Alcaraz.

tennisnet: Und das Federer-Element?

O´Shannessy: Das Timing, das bei Federer großartig ist. Federer schwebt auch über den Platz, wie auch Alcaraz. Ich habe zweimal gegen Alcaraz gecoacht: Einmal hier 2021, wo ich bei Jan-Lennard Struff mitgeholfen habe, dass er Alcaraz schlägt. Und etwas später im Jahr in Winston-Salem, wo ich mit Alexei Popyrin gearbeitet habe. Dieses Match hat Alcaraz im Tiebreak des dritten Satzes gewonnen. Und ich bin an der Grundlinie gesessen, erste Reihe. Und ich habe Alcaraz angestarrt und immer nur gedacht: „Federer, Federer, Federer“, weil er so viele kleine Schritte gemacht hat. Federer ist ein All-Court-Player, Alcaraz liebt es auch, ans Netz zu gehen. Er volliert extrem gut, hat keine Probleme damit, Serve-and-Volley zu spielen.

"Tsitsipas hat ein Problem auf der Rückhand-Seite"

tennisnet: Und Alcaraz hat es schon geschafft, in die Köpfe mancher Spieler zu kommen. Vor allem in jenen von Stefanos Tsitsipas, gegen den er scheinbar nicht verlieren kann.

O´Shannessy: Tsitsipas hat ein Problem auf der Rückhand-Seite. Wir haben das im Finale von Rom gesehen, wo Novak das forciert hat. Seine Rückhand ist einfach zusammengebrochen. Stefanos kann manchmal eine sehr gute Rückhand haben, manchmal aber ist das die Seite, die sich verabschiedet. Und Alcaraz kann diese Rückhandseite absolut malträtieren. Alcaraz hat einen unglaublichen Rückhand-Cross-Schlag - aber auch einen starken Longline-Ball. Wenn Tsitsipas und Alcaraz also in langen Ballwechseln sind, ist Alcaraz im Moment im Vorteil. Tsitsipas muss sich anpassen, öfter ans Netz kommen, den Spin wechseln.

tennisnet: Ihre Kerndisziplin sind die Statistiken im Tennissport. Wie haben sich die während der letzten Jahrzehnte verändert?

O´Shannessy: Die statistische Erfassung von Daten im Tennis ist 1991 losgegangen, auf einem sehr primitiven Level. Das hat sich bis 2002 nicht geändert. Dann hat man gedacht, Statistiken könnten ein wenig wichtiger werden. Aber erst 2015 ist man auf die Länge der Ballwechsel gekommen. Also die Einteilung in null bis vier, fünf bis acht und neun und mehr Schläge. IBM hat bei den Australian Open 2015 erstmals diese Daten zur Verfügung gestellt. Und ich war schockiert zu sehen, dass 70 Prozent aller Punkte vier oder weniger Schläge gehabt haben. Ein Maximum also von zwei Schlägen pro Spieler. Sieben von zehn Punkten! Damals haben wir die Sieger der längeren Ballwechsel wegen ihrer Beständigkeit gefeiert, aber das war falsch.

tennisnet: Ist das mittlerweile allgemein bekannt?

O´Shannessy: Ich habe Novak, Andy Murray, renommierte Coaches gefragt, welche Anzahl an Schlägen sie für die häufigste in einem Ballwechsel halten. Die Antwort war: vier. Und das ist nicht einmal annähernd richtig. Eine Ein-Schlag-Rallye passiert am häufigsten, in ungefähr 30 Prozent der Ballwechsel. Danach gibt es einen dramatischen Abfall auf 15 Prozent, das sind die Drei-Schläge-Ballwechsel. Und wenn die Zahlen ungerade sind, heißt das natürlich, dass nur der Aufschläger den Punkt gewinnen kann. Vier Schläge liegen übrigens bei 7,5 Prozent …

"Alle kopieren sich, lernen voneinander"

tennisnet: Was sollten die Coaches mit diesen Informationen anfangen?

O´Shannessy: Man muss sich obsessiv mit den ersten vier Schlägen eines Ballwechsels im Training beschäftigen. Wir wollen einen ersten Aufschlag und eine Vorhand. Wir wollen eine Drei-Schläge-Rallye. Asse sind natürlich auch gut. Bei einem zweiten Aufschlag ist die Sache komplett anders: Der Return kommt stärker zurück, die Gefahr eines Fehlers beim ersten Schlag des Aufschlägers nach dem Service ist größer. Hier muss man Stärke in der Defensive zeigen. Das kann man trainieren.

tennisnet: Wie sieht es mit taktischen Mustern aus?

O´Shannessy: Im Basketball wird statistisch erfasst, wenn jemand einen Korb wirft. Aber auch den Assist. Im Tennis gibt es keine Statistik für den Assist. Nichts. Das ist wirklich wichtig. Es ist oft der Schlag drei, vier Schläge vor dem Gewinnschlag, der einem die Kontrolle über den Ballwechsel gibt. Ein gutes Muster ist das 2-1-Muster: zunächst spielt man tief in die Rückhand-Ecke seine Gegners. Von hinten kann der Gegner einem nicht wehtun. Und muss, wie man es in der Defensive macht, mit einem Cross-Ball antworten. Der vielleicht ein bisschen kürzer kommt. Man umläuft die Rückhand, spielt wieder tief in die Rückhand seines Gegners und rückt weiter vor. Mit diesen beiden ersten Schlägen hat man den Gegner schon darauf konditioniert, dass er wieder einen Ball in seine Rückhand-Seite erwartet. Und dann kann man in die offene Vorhand-Ecke abschließen. Aber es waren die beiden Bälle in die Rückhand, die den Punkt gewonnen haben. Als ich mit Novak gearbeitet habe, haben diese Muster eine Rolle gespielt. Und auch die Muster von Federer und Nadal. Aber: Sie alle kopieren sich, lernen voneinander.

tennisnet: Sie sind hier in Roland Garros wieder als Analyst unterwegs. Haben im vergangenen Jahr aber auch auf der ATP-Tour gecoacht - Alexei Popyrin nämlich. Warum hat sich das aufgehört?

O´Shannessy: Ich habe darüber mit einem sehr respektierten Coach erst vor ein paar Tagen gesprochen. Wenn man mit einem Spieler beginnt, dass man Glück mit jenen Dingen hat, die man zu implementieren versucht. Das fördert das Vertrauen. Weil die meiste Zeit verbringt man als Coach eigentlich damit, Bälle einzusammeln. Das klingt fürchterlich. Aber so ist es. Hier und da ein Klopfen auf die Schulter. Man stellt sicher, dass nicht alles in sich zusammenfällt. Vor Matches gibt es die strategische Arbeit, das stimmt. Nach dem Match ist es so so hart, wenn ein Spieler verliert. Weil sie emotional in ein so großes Loch fallen. In den ersten Stunden nachdem Match ist es sehr schwierig, eine sinnvolle Konversation zu haben. Deshalb arbeite ich viel mit Videos. Was andere Coaches nicht tun. Ohne Video ist es aber eine Konversation, die auf einer Meinung gründet. Und der Spieler wird immer glauben, dass er richtig liegt. Coachen auf der Tour ist wirklich nicht einfach.

Craig O´Shannessy beim Interview in Roland Garros
© privat/tennisnet
Craig O´Shannessy beim Interview in Roland Garros

 

 

 

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