Westphal: Lockenkopf mit Kämpferherz

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 25.09.2017, 14:58 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Es ist Freitag, der 4. Oktober 1985, in der Frankfurter Festhalle. Ganz Deutschland befindet sich im Tennisfieber. Das deutsche Team spielt im Halbfinale des Davis Cups gegen die damalige Tschechoslowakei um den Einzug ins Finale. Einige Monate zuvor hat ein 17-jähriger Rotschopf aus Leimen namens Boris Becker das berühmteste Tennisturnier der Welt in Wimbledon gewonnen und damit einen Boom des zuvor eher verstaubt und versnobt geltenden "weißen Sports" in Deutschland ausgelöst.

Im Fahrwasser von Boris Becker reifen auch andere hoffnungsvolle Talente zu herausragenden Spielern heran. Dieses gilt auch für Michael Westphal, der an der Seite von Becker mit dem deutschen Davis-Cup-Team zum zweiten Mal nach 1970 in das Finale einziehen will. In der Frankfurter Festhalle ist extra für Becker ein schneller Teppichboden verlegt worden, damit dieses Vorhaben auch in die Tat umgesetzt werden kann. Und so hat Becker im ersten Einzel wenig Mühe mit Miloslav Mecir, den er glatt in drei Sätzen vom Platz fegt und damit die deutsche Mannschaft mit 1:0 in Führung bringt.

Der Davis Cup hat seine eigenen Gesetze

Anschließend betreten Michael Westphal und Tomas Smid zum zweiten Einzel die Festhalle. Der 20-jährige Deutsche gilt als klarer Außenseiter gegen den Routinier Smid, dem der schnelle Teppichbelag eher zu liegen scheint als dem Lockenkopf aus Hamburg. Der Tschechoslowake, der später als Trainer von Becker fungiert hat, ist etablierter Top-20-Spieler und hat in jenem Jahr auch die Führung in der Doppelweltrangliste übernommen. Doch dass der Davis Cup seine eigenen Gesetze besitzt, hat sich auch in diesem denkwürdigen Match - mal wieder - bewahrheitet.

Zunächst scheint aber alles nach Plan zu laufen für Smid, der den ersten Satz mit 8:6 für sich entscheidet. Zu dieser Zeit gibt es noch keinen Tiebreak im Davis Cup, der erst vier Jahre später in diesem Wettbewerb eingeführt wird. So geht jeder Satz über die volle Distanz. Diese Tatsache verleiht dem Match aber das besondere Flair. Nachdem Smid den zweiten Satz problemlos mit 6:1 gewinnt und auch im dritten Durchgang mit einem Break in Front liegt, geben wohl die wenigsten Zuschauer in der Frankfurter Festhalle und an den Bildschirmen noch einen Pfifferling auf Westphal. Doch der Lockenkopf kämpft sich zurück in das Match und hat bei 5:5 im dritten Durchgang eigenen Aufschlag.

Teppichpause in der Frankfurter Festhalle

Was dann kommt, hat man wohl vorher noch nie gesehen in einem Tennismatch. Was ist passiert? Westphal schlägt auf, stürmt ans Netz, macht mit seinem rechten Fuß einen Ausfallschritt zum bevorstehenden Volley, rutscht aus und reißt dabei eine ganze Bahn des grünen Teppichbodens heraus. Dennoch hält er das Gleichgewicht, spielt am Netz den Punkt zu Ende und entscheidet ihn sogar für sich. Dabei hat er froh sein können, dass ihm nichts Schlimmeres passiert ist und er diese Aktion unbeschadet überstanden hat.

Die Partie wird unterbrochen und der Teppich neu geklebt. Die unerwartete Pause bedeutet den Wendepunkt im Spiel. Zwar wird der Ballwechsel wiederholt, doch fortan kommt Westphal immer besser zurecht mit Smid, dem die Teppichpause nicht sonderlich gut getan hat. Mit 7:5 geht der dritte Satz an den Deutschen, der spätestens dort die gesamte Festhalle und die halbe Nation an den Bildschirmen mit seinem Kämpferherz fesselt. Bei 4:4 im vierten Satz passiert das Malheur mit dem Teppich erneut. Wieder bleibt Westphal auf dem Weg ans Netz mit seinem Fuß am Teppich hängen und reißt ihn heraus. Die Partie wird abermals unterbrochen, damit der Teppich wiederhergestellt werden kann.



Spiel, Satz und Sieg Westphal - 6:8, 1:6, 7:5, 11:9, 17:15

Das Match wird nun von Minute zu Minute intensiver. Westphal kämpft bis zum Umfallen, gewinnt den vierten Satz mit 11:9 und zwingt Smid in einen entscheidenden fünften Satz. Das Publikum feiert jeden Punkt des Deutschen so, als wäre es schon der Matchball. Der fünfte Satz bewegt sich schließlich auf Messers Schneide und wird immer länger und länger. Die Zuschauer in der Frankfurter Festhalle haben mittlerweile das Zeitgefühl verloren und auch die Millionen Zuschauer vor den Fernsehern kleben vor ihren Bildschirmen in gespannter Erwartung auf die Sensation durch den Deutschen.

Und so kommt es dann auch. Angepeitscht vom Publikum ringt Westphal den Tschechoslowaken kurz vor Mitternacht in einem episch langen fünften Satz mit 17:15 nieder und bringt das deutsche Team mit 2:0 in Führung. Deutschland hat einen neuen Tennishelden! Mit 85 Spielen ist es bis heute das Einzel mit den meisten Spielen aller Zeiten in der World Group des Davis Cup. Am Ende des Halbfinals heißt es 5:0 für das deutsche Team, das zum zweiten Mal ein Endspiel im Davis Cup erreicht. Im späteren Finale gegen Schweden agiert Westphal aber glücklos und verliert beide Einzel, so dass Deutschland nach der 2:3-Niederlage weiter auf den ersten Gewinn der "hässlichsten Salatschüssel der Welt" warten muss.

HI-Virus schlummert im Körper von Westphal

So heldenhaft der Auftritt von Westphal gegen Smid war, so tragisch verlief dagegen sein weiteres Leben. Kaum einer ahnte, dass in seinem Körper der HI-Virus schlummerte. Im Alter von 16 Jahren soll er sich mit der Immunkrankheit bei einer drogenabhängigen Mitschülerin angesteckt haben. So war es dann auch wenig verwunderlich, dass seine Tenniskarriere schneller zu Ende war, als er gehofft hatte. Seine höchste Weltranglistenposition erreichte Westphal mit Platz 49 im März 1986.

Danach ging es stetig bergab in der Weltrangliste. Eine mangelnde Berufsauffassung wurde dem Lebemann aus Hamburg vorgeworfen, der sich eher im Privatleben austobte als in seinem Beruf auf dem Platz. "Ich muss auch noch Spaß haben beim Tennis", verteidigte sich Westphal gegenüber seinen Kritikern. Im Jahre 1989 kam dann die Immunkrankheit zum Ausbruch, die ihn immer mehr schwächte und zahlreiche Comebackversuche unmöglich machte. Er litt unter Haarausfall, Hautallergien und musste starke Medikamente einnehmen. Der große Halt in seinem Leben war seine Freundin Jessica Stockmann, die später seinen Freund Michael Stich heiraten sollte und ihn in seinen schwersten und letzten Stunden begleitete.

Tod im jungen Alter von 26 Jahren

In der Nacht zum 20. Juni 1991 starb Westphal schließlich in der Hamburger Universitätsklinik im Alter von nur 26 Jahren an Aids. Erst zehn Jahre später deckte Stockmann seine HIV-Infektion auf. "Ich habe versprochen, zehn Jahre zu schweigen und gegen Aids zu kämpfen", bekannte seine damalige Lebensgefährtin, die nach dem Tod von Westphal gemeinsam mit Stich die Michael-Stich-Stiftung ins Leben rief, um sich für HIV-infizierte Kinder einzusetzen und so auch auf das Schicksal von Westphal aufmerksam zu machen.

Was bleibt von Michael Westphal in Erinnerung? Ein Vorbild, dessen großes Kämpferherz in der Verleihung des Michael-Westphal-Award an Personen, die sich um den Tennissport verdient gemacht haben, weiter lebt und die Tatsache, dass Spieler ohne Turniersieg und hohe Weltranglistenposition im Davis Cup unsterblich werden können. (Foto: YouTube)

von Christian Albrecht Barschel

Montag
25.09.2017, 14:58 Uhr