Zeitspiel – Warum einige Matches ewig dauern
In den letzten 25 Jahren hat sich das Herrentennis zur Geduldsprobe entwickelt, die Zeit zwischen den Punkten wurde immer länger. Eine Entwicklung, die nicht viele Freunde hat.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
30.06.2016, 13:18 Uhr

Jeder Tennisfan weiß wer gemeint ist: Er säubert die Grundlinie mit dem Fuß, klopft mit dem Schläger auf die Schuhe, um den Sand loszuwerden, zupft an der Hose, streicht das Haar hinters Ohr und schlägt endlich auf. Zugegeben, das war nur die Kurzversion des Aufschlagrituals vonRafael Nadal. Die ausführliche Variante des „Matadors“ nahm 47 Sekunden pro Punkt in Anspruch, gemessen im French-Open-Achtelfinale 2015 gegenJack Sock. Erlaubt sind bei den Grand-Slam-Turnieren seit 2013 maximal 20 Sekunden, auf der ATP-Tour sind es fünf Sekunden mehr.
Nach den „90ern“ wurde der Leerlauf immer länger
Der Ruf nach kürzeren Pausen zwischen den Ballwechseln wurde nachdem legendären Australian-Open-Endspiel 2012so laut, dass die ATP die Zeitschraube anzog. Damals duellierten sichNovak Djokovicund Rafael Nadal über fünf Stunden und 53 Minuten in einer epischen Fünf-Satz-Schlacht. Doch die Entwicklung zu immer längeren Matches setzte schon deutlich früher ein, wie Carl Bialik per Datenerhebung für die Online-Platform „Fivethirtyeight“ dokumentiert. In den frühen 1990er Jahren war Tennis noch ein Hochgeschwindigkeitsspiel. Serve-und-Volley-Spezialisten wie Pete Sampras hielten nicht nur die Ballwechsel kurz, sondern ließen sich auch zwischen den Aufschlägen kaum Zeit. Gegen Ende des letzten Jahrtausends setzte dann eine Umkehrentwicklung ein. Nicht nur die Grundlinienduelle dauerten immer länger, auch der Leerlauf zwischen den Punkten weitete sich zunehmend aus.
Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde 2012 erreicht, als der durchschnittliche Punkt 4,6 Sekunden länger in Anspruch nahm als 1991. Was sich zunächst nicht dramatisch anhört führt zu einer Spielzeitverlängerung von 19 Minuten in einem „Best-of-Five“-Match über 250 Punkte. Die Geschwindigkeit der Bodenbeläge beeinflusste diese Entwicklung maßgeblich. Auf den schnellen Rasenplätzen wurde dementsprechend weniger Zeit benötigt. Kurze Ballwechsel führten zu kurzen Erholungspausen. In Wimbledon (1991-2014) lag der Zeitwert pro Punkt fast drei Sekunden unter dem Durchschnitt. Während auf dem langsamen Sand der Rio Open 2015 mehr als fünf Sekunden zum Mittelwert hinzukamen.
Nadal war mal schneller, als er glaubt
Noch größer als der Einfluss der Beläge ist das Verhalten der Spieler selbst. Zwischen dem schnellsten SpielerDustin Brown(- 6,37 Sekunden/Punkt) und Nicolas Massu (+ 6,35 Sek./P.) liegen 12,6 Sekunden – das ist mehr als die Differenz zwischen dem schnellsten und langsamsten Jahr (1996-97)/Turnier (Wimbledon). Rafael Nadal (+ 5,92 Sek./P.) war nur unwesentlich schneller als der chilenische Einzel- und Doppel-Olympiasieger von Athen. Da diese Zahlen nur die Zeit zwischen den Ballwechseln erfassen, addierte Bialik den Wert zur durchschnittlichen Dauer der „Rally“. Dabei kam raus, dass die „langsamen“ Spieler überwiegend zu den erfolgreichsten Profis aller Zeiten gehören. Nadal und Djokovic sowie Jimmy Connors, Jim Courier, Ivan Lendl oder John McEnroe haben demnach einen kleinen Vorteil gegenüber „schnellen“ Spielern wieRoger Federeroder Goran Ivanisevic.
Besonders bemerkenswert ist die Entwicklung der „Big Four“, welche die Zeit zwischen den Punkten im Laufe ihrer Karrieren teilweise drastisch veränderten.Murray, Nadal und Djokovic benötigten zu Beginn ihrer Laufbahn zirka zwei Sekunden weniger als der Durchschnitt aller Profis auf der Tour. In den Folgejahren fielen alle drei unter den Mittelwert. Während Djokovic seit 2010 wieder „schneller“ wurde, fiel Murrays Wert in den Keller. Der Brite brauchte 2015 fast drei Sekunden länger als der Durchschnitt. Ähnlich verhält sich die Entwicklung bei Nadal, der jedoch in den Jahren 2010 und 2013 eine Sekunde weniger als der Schnitt benötigte und mittlerweile nur knapp unter dem Mittelwert liegt. Einzig Roger Federer pendelte sich konstant rund um den Durchschnittswert ein. Die Ausnahme bildet das Jahr 2012, als der „Maestro“ ebenfalls eine Sekunde weniger als das Gros der Spieler für seine Aufschlagvorbereitung brauchte. In diesem Zusammenhang wirkt eine Aussage des „Stiers von Manacor“ recht amüsant. Nadal, der bekanntlich des Öfteren genervt auf die „Zeit-Debatte“ reagierte, sagte letztes Jahr in Roland Garros dazu: „Ich glaube nicht, dass ich in den ersten zehn Jahren meiner Karriere schneller als heute zwischen den Punkten agierte.“ Vor allem bis 2006 passt „Rafas“ Wahrnehmung nicht zu den statistischen Erhebungen von Analyst Jeff Sackmann – besonders in den ersten Jahren seiner Laufbahn ließ sich Nadal deutlich weniger Zeit als später.
Der Geduldsfaden ist nicht bei jedem gleich lang
Während Andy Murray zwischen den Ballwechseln gerne ausgiebig über Taktik und Aufschlagvarianten grübelt, wenn nötig auch mal länger als 30 Sekunden, drücktBernard Tomicauf die Tube. „Jeder spielt anders. Das ist die Waffe, die man heutzutage hat“, sagte der Australier und meinte damit die Möglichkeit, den Rhythmus selbst zu bestimmen. Ins gleiche Horn stießSam Querrey. Lange Pausen zwischen den Aufschlägen seien eher störend für das eigene Wohlbefinden. Beim Return geht es dem US-Amerikaner wie vielen Zuschauern – zu langes Warten nervt. Ähnlich sieht es Goran Ivanisevic, mit der Empfehlung: „Vielleicht nur noch halb so oft, nach dem Handtuch zu bitten.“ Auf der anderen Seite haben Michael Chang und Pat Cash Verständnis für Spieler wie Nadal, der extrem schwitzt und damit öfter zum Handtuch greift. Dem Wimbledon-Sieger von 1987 gefallen die langen Ballwechsel besser als das Tennis zu seiner Zeit. „Die Zuschauer sollen kräftig durchatmen“, wenn die Spieler sich ihre wohlverdiente Verschnaufpause gönnen. Die Zeitfrage spaltet nicht nur die Tennislegenden, sondern auch viele Fans – denn wer wartet schon gerne?