Vom Schattenmann in die „Big Four“ – Stan Wawrinka auf einer neuen Tennisstufe

Krönt Stan Wawrinka seine bislang beste Saison? Der Schweizer geht als Mitfavorit in die ATP World Tour Finals in London.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 15.11.2015, 17:52 Uhr

Von Jörg Allmeroth

Was hätte man früher zu einer WM-Vorrunden-Gruppe mit den HerrenAndy Murray,Rafael Nadal, Stan Wawrinka undDavid Ferrergesagt? Langweilig. Nur begrenzt unterhaltsam. In ihrem Ausgang vorhersehbar. Doch wenn an diesem Montag die Ausscheidungsspiele dieser Gruppe in der Londoner O2-Arena beginnen, ist fast nichts gewiss, so ziemlich alles offen. Und ein mindestens spannungsgeladener Dreikampf um zwei Halbfinal-Plätze so gut wie sicher. Schuld daran ist einer, der wie kein anderer in den letzten beiden Tennis-Spielzeiten die Machtarchitektur durcheinandergebracht hat, jenes Bild von der Führungselite erneuerte, das sich im Begriff der Fabelhaften Vier („Fabulous Four“) manifestierte. Einst blickte er ehrfürchtig hinauf zu den Allerbesten unter den Besten, nun gehört er, der Längst-Nicht-Mehr-Schattenmann Wawrinka, selbst dazu. So wieNovak Djokovic,Roger Federerund Andy Murray.

„Ich gehe in diese Turniere mit dem Wissen, dass ich Großes erreichen kann“

Gegen den Konkurrenten, den er aus dieser Gruppe faktisch als aktuelle Nummer vier der Tennis-Charts wie gefühlt verdrängt hat, den spanischen Granden Rafael Nadal, muss Wawrinka seine WM-Kampagne am Montagabend in London eröffnen. Wawrinka hat bei seinem Sprung in eine neue Ranglisten- und Bedeutungskategorie gewiss von den Schwächemomenten Nadals profitiert, von seinen Verletzungspausen, von den plötzlichen Selbstzweifeln und Unsicherheiten des früheren Gladiators. Aber noch bevor Nadal in die Krise rutschte und zuletzt auch ganz besonders bei Grand Slams viele eher durchschnittliche Auftritte in sein Zeugnis festschrieb, war Wawrinka schon auf einer neuen Höhe seiner Tenniskunst. Auch auf einer neuen Höhe der Selbstgewissheit, des Zutrauens ins eigene Können, der Wettkampf-Härte, der Durchsetzungskraft in den wichtigen Duellen. In gewisser Weise war Wawrinka auf einmal dieser bullige, markante Spielertyp, den Nadal vorher so eindrucksvoll repräsentierte. Sein Spitzname „Stanimal“ kam keineswegs von ungefähr. „Wawrinka hat sich irgendwie neu erfunden“, sagt Beobachter John McEnroe.

Wawrinka, in seinem vergangenen Tennisleben immer auch der blasse Schattenmann hinter Roger Federer, hat in den letzten beiden Jahren fast alles aus seiner früheren Profi-Existenz abgeschüttelt. Dazu gehört auch, bei den Grand Slams oder der Tennis-WM nicht mehr nur eine enttäuschende Randfigur zu sein, sondern eine tragende Rolle im großen Spiel einzunehmen. Bei allen Grand Slams dieser Saison kam Wawrinka wenigstens ins Viertelfinale, sein French-Open-Durchmarsch verdarb Weltranglisten-Spitzenreiter Djokovic den Coup, alle vier „Majors“ in einem Kalenderjahr zu gewinnen. „Ich fühle mich sehr wohl da vorne. Ich gehe in diese Turniere mit dem Wissen, dass ich Großes erreichen kann“, sagt Wawrinka.

Symbolträchtiger Davis-Cup-Sieg

Das gilt auch für die WM, die inzwischen offiziell als ATP World Tour Finals firmiert. Bei seinen beiden bisherigen Starts spielte sich Wawrinka ins Halbfinale vor, 2015 verlor er in einem dramatischen Vorschlussrunden-Match gegen Roger Federer – ein Duell, das im Tiebreak des dritten Satzes mit 6:8 gegen Wawrinka zu Ende ging. Es gab reichlich Emotionen um diese Partie, noch mehr, als Federers Frau Mirka ihn, Wawrinka, als „Heulsuse“ abkanzelte, weil er sich über dauernde Zwischenrufe beklagt hatte. Das vielleicht Bemerkenswerteste an all dem, was da auf der Saison-Zielgeraden des vergangenen Jahres passierte, war aber dies: Völlig ungerührt von dem großen Medien-Ballyhoo, war es Wawrinka, der die Schweizer Davis-Cup-Mannschaft nach der WM zum geschichtsträchtigen Davis-Cup-Erfolg in Frankreich führte. Der Vater des Sieges war er, Wawrinka. Und nicht Federer, der auch verletzt Angeschlagene. „Es war der Moment, der Stan endgültig auf eine neue Stufe im Tennis geführt hat“, sagt Trainer Magnus Norman. Wobei auch Norman, der ruhige, besonnene Schwede, eine gewichtige Rolle im Entwicklungsprozess des spät zu Großem berufenen Wawrinka gespielt hat.

Wawrinka hat schon die beste Saison seiner Karriere hinter sich. Mit einer Bilanz von 53:16-Siegen. Und mit vier Titeln in Chennai, Rotterdam, Paris (Roland Garros) und Tokio. Der 30-Jährige ist im späten Herbst noch einmal auf Touren gekommen, in Paris, beim Masters-Wettbewerb, distanzierte er Nadal in einem Tiebreak-Krimi im Viertelfinale, verlor dann in drei Sätzen gegen Frontmann Djokovic im Halbfinale. Damit war Wawrinka der einzige, der Djokovic überhaupt in den letzten Wochen einen Satz abtrotzen konnte. Ein symbolischer Moment auch für die WM? Ist Wawrinka der Spieler, der Djokovics Kreise am ehesten stören kann? „Ich glaube daran, den Titel holen zu können“, sagt Wawrinka, „aber es wird eine sehr harte Prüfung.“

Hier die Ergebnisse und Auslosungen aus London:Einzel,Doppel.

Hier der Spielplan.

von tennisnet.com

Sonntag
15.11.2015, 17:52 Uhr