Becker, Stich und die Wimbledon-Revanche

tennisnet.com blickt auf das deutsche Viertelfinale im Jahre 1993 zurück.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 21.06.2013, 17:39 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Zu Wimbledon hatten Boris Becker und Michael Stich eine ganz besondere Beziehung. Beide feierten beim berühmtesten Tennisturnier der Welt ihre größten Erfolge. Becker gewann dreimal das Turnier und stand vier weitere Male im Endspiel. Stich setzte sich 1991 die Krone in Wimbledon auf und schlug im deutschen Finale seinen Rivalen Becker klar in drei Sätzen. Für Becker war es die wohl schlimmste Niederlage in seiner Karriere. Zwei Jahre später bekam Becker die Chance zur Revanche, als sich die beiden deutschen Ausnahmespieler im Viertelfinale von Wimbledon gegenüberstanden. tennisnet.com blickt auf das deutsche Viertelfinale 1993 in Wimbledon zurück.

Für Becker war es 1993 die zehnte Teilnahme bei seinem Lieblingsturnier. Der heilige Rasen in Wimbledon bescherte dem Leimener schöne, aber auch bittere Momente. Bei seiner ersten Teilnahme in Wimbledon musste Becker als 16-Jährige in der dritten Runde aufgeben, weil er sich einen Bänderriss zugezogen hatte. Ein Jahr später triumphierte er mit 17 Jahren sensationell und wurde der jüngste Wimbledonsieger. Dass der Sieg kein Zufall war, bewies Becker 1986, als er seinen Wimbledontitel erfolgreich verteidigen konnte. Es folgte in den nächsten Jahren das sensationelle Aus in der zweiten Runde im Jahre 1987 auf dem Friedhof der Stars sowie von 1988 bis 1991 vier Finalteilnahmen in Folge, von denen Becker nur das Endspiel 1989 gewinnen konnte.

Im "Wohnzimmer" immer in Hochform

Becker betrachtete den Centre Court in Wimbledon als "sein Wohnzimmer", seine persönliche Wohlfühloase, in der er immer wieder zur Hochform auflief. "Ich habe hier in Wimbledon jedes Jahr mein bestes Tennis gespielt, es ist der Geist, der Geruch, die Atmosphäre. Ich denke an die Vergangenheit - und schon spiele ich besser", erklärte Becker während der Turniertage 1993. Stich kehrte in jenem Jahr mit der Erinnerung zurück, dass er in Wimbledon seinen größten Erfolg gefeiert hatte. Zwei Jahre zuvor gewann er zur Verblüffung vieler Leute das deutsche Endspiel gegen seinen Landsmann Becker - und das hochverdient in drei Sätzen.

Dennoch stand der unterkühlte Norddeutsche aus Elmshorn stets im Schatten des Rotschopfs aus Leimen. Da passte es auch ins Bild, dass der Schiedsrichter bei Stichs Wimbledonsieg, "Game, Set and Match Becker" rief und seinen Rivalen zum Sieger erklärte. Becker und Stich gingen stets getrennte Wege und in unterschiedliche Richtungen. Das gemeinsame Olympia-Gold 1992 in Barcelona brachte nur kurzzeitig Harmonie. Danach war wieder Funkstille zwischen den beiden Deutschen. "Es ist nicht so, dass wir uns nicht leiden können. Aber wir haben nicht viel gemeinsam", erklärte Stich vor dem Viertelfinal-Duell. "Wir respektieren uns gegenseitig. Freunde sind wir nicht. Ich denke, Respekt ist das meiste, was man erwarten kann", ergänzte Becker.

Langweiliges Match befürchtet

Die Auslosung wollte es so, dass Becker, die Nummer vier der Welt, und Stich, die Nummer acht der Welt, in Wimbledon im Viertelfinale aufeinandertreffen konnten. Und so kam es dann auch zum erhofften Duell der beiden deutschen Wimbledonsieger in der Runde der letzten Acht. Stich machte vor dem Duell den Zuschauern wenig Hoffnung, dass sie ein interessantes und spannendes Match sehen würden. "Wahrscheinlich wird unser Match langweilig werden. Alle Matches, die wir gegeneinander gespielt haben, waren immer einfach für den einen oder anderen. Wir hatten nie harte Kämpfe. Ist es aufregend, wenn jemand 6:1, 6:1 gewinnt? Ich denke nicht. Ich habe noch keinen gehört, der mir gesagt hat, dass die Matches, die ich gegen Boris gespielt habe, richtig unterhaltsam waren. Ich habe in Mailand 6:2, 6:2 verloren. Ich habe ihn hier 1991 geschlagen. Und ich habe niemanden nach dem Match sagen hören, dass es ein tolles Match war. Wenn man es mit dem letztjährigen Finale vergleicht, war das ein großartiger Wettbewerb."

Außerdem stichelte der Elmshorner etwas in Richtung Becker. Er sprach davon, dass Becker ein großartiger Spieler war und dass er es bewundere "was er getan und erreicht hatte". Becker sei aber nicht mehr der Spieler von früher, erklärte Stich. "Man kann sich die Ergebnisbücher anschauen. Darüber gibt es keinen Zweifel. Seine Grand-Slam-Ergebnisse in den letzten beiden Jahren waren nicht so gut verglichen mit den Grand-Slam-Ergebnissen, die er vorher hatte. Ich denke, dass er vor zwei Jahren besser gespielt hat, aber ich denke, dass er immer noch ein guter Spieler ist."

Bilanz sprach für Stich

Auch wenn der Centre Court das Wohnzimmer von Becker war, lag die Favoritenrolle etwas bei Stich. Denn der Elmshorner hatte nicht nur das einzige Duell in Wimbledon klar in drei Sätzen gewonnen, sondern setzte sich auch wenige Tage vor Turnierbeginn in Wimbledon beim Rasenturnier im Londoner Queen's-Club im Viertelfinale gegen Becker mit 6:4, 7:6 (2) durch. Stich gewann schließlich auch das Turnier in Queen's und galt fortan als heißer Anwärter auf den Wimbledontitel. Die Bilanz auf Rasen gegen Becker sprach also mit 2:0-Siegen und 5:0-Sätzen klar zugunsten von Stich. Das siebte Duell zwischen den beiden Deutschen (zu diesem Zeitpunkt stand es 3:3 im direkten Vergleich) sollte das spannendste der insgesamt zwölf Duelle werden.

Dass die Zuschauer kaum längere Ballwechsel, schon gar nicht Duelle an der Grundlinie, sehen würden, war von vornherein klar. Denn mit Becker und Stich standen sich zwei waschechte Serve-and-Volley-Spieler gegenüber, die nach jedem Aufschlag bedingungslos ans Netz stürmten. Man musste damit rechnen, dass die krachenden Aufschläge der beiden Deutschen das Match bestimmen würden und es nur zu wenigen Breakbällen kommen würde. Stich, als wollte er das bestätigen, servierte im ersten Spiel gleich drei Asse und legte später den bis dahin schnellsten gemessenen Aufschlag im Turnier nach. Auch Becker hatte zu Beginn überhaupt keine Mühe, seine Aufschlagspiele zu halten und machte 24 Punkte in Folge, nachdem sein erster Aufschlag im Spiel war. Den ersten Breakball der Partie bekam Becker beim Stand von 3:3, vor allem deswegen, weil Stich drei Doppelfehler fabrizierte. Stich hielt zwar sein Aufschlagspiel, kassierte bei 5:5 dann aber das Break, weil in dieser Phase sein erster Aufschlag zu selten kam. Becker ließ es sich nicht nehmen und servierte anschließend zum 7:5 im ersten Satz aus.

Nervenstarker Stich im Tiebreak

Becker nahm den Schwung vom Satzgewinn mit in die Anfangsphase des zweiten Satzes und hatte gleich im ersten Spiel eine Breakchance. Stich wehrte diesen ab, schaffte den Spielgewinn und wirkte nun auch bei seinen Returnspielen fokussierter. Seinen ersten Breakball bei 1:0-Führung konnte er jedoch nicht verwerten. Auch bei 4:3 ließ er zwei weitere Chancen auf ein Break liegen. Kurios war die Szene, die zu einem Breakball von Stich führte. Becker musste seinen zweiten Aufschlag zum Amüsement der Zuschauer insgesamt sechsmal ausführen, weil der Ball fünfmal das Netz berührte. Stich blieb weiter am Drücker und hatte bei 5:4 zwei Satzbälle am Stück, die Becker mit etwas Glück abwehren konnte. Es ging schließlich in den Tiebreak. In diesem reichte Stich ein Minibreak zum 2:1, um den Tiebreak mit 7:5 zu gewinnen und den Satzausgleich zu schaffen.

Auch der dritte Satz verlief genauso ausgeglichen wie die beiden Sätze zuvor. Stich hatte bei 3:3 die erste Breakchance im Satz, die Becker dank seines unnachahmlichen Becker-Hechts abwehren konnte. Bei 5:4 hatte Becker urplötzlich Breakball, gleichbedeutend mit Satzball. Stich wehrte den Satzball ab und zeigte Becker anschließend die Faust. Das Spiel verlief anders als die bisherigen Duelle der beiden vollkommen auf Augenhöhe. Erneut musste der Tiebreak die Entscheidung über den Satz bringen. Im Tiebreak konnte Becker zwei Minibreaks von Stich sofort egalisieren. Ein drittes Minibreak baute Stich aus und erspielte sich zwei Satzbälle. Nachdem er beim ersten Satzball einen Doppelfehler geschlagen hatte, holte sich Stich dann den Satzgewinn mit einem wunderschönen Passierball aus dem Lauf, der an Becker vorbei auf die Linie klatschte.

Cleverer Becker holt sich entscheidendes Break

Becker hatte seinen Aufschlag zwar noch nicht ein einziges Mal abgegeben, lag aber dennoch mit 1:2 in den Sätzen zurück. Erinnerungen wurden wach an das Wimbledon-Halbfinale 1991 zwischen Stich und Stefan Edberg, in dem der Deutsche das Match in vier Sätzen und mit drei Erfolgen im Tiebreak für sich entschied, ohne Edberg ein einziges Mal zu breaken. Becker wischte diesen Gedanken schnell beiseite, breakte Stich im vierten Satz zweimal in Folge und ging schnell mit 4:0 in Führung. Der Satz ging schließlich mit 6:2 an Becker. Zum ersten Mal gab es zwischen den beiden Deutschen einen entscheidenden Satz.

Stich legte im fünften Satz gut los, hielt sein Aufschlagspiel und erspielte sich einen Breakball zur 2:0-Führung. Wie es so oft im damaligen Rasentennis der Fall war, entschieden bei gleichwertigen Spielern, besonders bei starken Aufschlägern, nur Kleinigkeiten über Sieg und Niederlage. Becker hielt sein Aufschlagspiel und hatte wenig später selbst einen Breakball. Nachdem Stich den ersten Aufschlag ins Aus schlug und zum zweiten Aufschlag ansetzen wollte, wurde er von Becker unterbrochen, der um etwas Zeit bat, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Stich servierte anschließend ins Netz und gab Becker mit dem Doppelfehler das Break zum 2:1. "Ich denke, dass es clever von ihm war, das zu tun. Es hat sich ausgezahlt", sagte Stich nach dem Match.

Enttäuschter Stich missachtet Protokoll

Becker hielt seine Aufschlagspiele und servierte bei 5:4 zum Matchgewinn. Ohne das bei seinen Spielen obligatorische Drama wollte sich Becker aber nicht aus "seinem Wohnzimmer" verabschieden. Mit einem Doppelfehler gab der Leimener Stich einen Breakball zum 5:5 und die Chance, ins Match zurückzukommen. Becker wehrte den Breakball ab. Stich gab nicht klein bei, wehrte zwei Matchbälle ab und hoffte auf sein erstes Break im Match. Doch diese Hoffnung zerstörte Becker bei seinem dritten Matchball, als er einen Service-Winner schlug. 7:5, 6:7 (5), 6:7 (5), 6:2, 6:4 hieß es letztendlich nach 4:15 Stunden für Becker, der damit ins Halbfinale einzog.

"Ich wusste nicht mehr, wie ich aufschlagen sollte. Er hat alle Returns zurückgespielt und mich ein paar Mal passiert. Am Ende habe ich nur gedacht, ‚schlage den Ball irgendwohin, so hart du nur kannst'. Ich habe mich nicht darum gekümmert, in welcher Ecke es war. Ich habe nur versucht, den Ball so hart wie ich konnte zu schlagen und irgendwie habe ich es geschafft, das gesamte Ding zu gewinnen. Aber es war sehr eng", sagte Becker anschließend. Der enttäuschte Stich verließ so schnell wie es ging den Centre Court und scherte sich nicht um das Protokoll in Wimbledon, das vorsah, dass die beiden Spieler gemeinsam den Platz verlassen. "Ich bin runtergegangen, weil ich Boris den Platz überlassen wollte. Er hat es verdient, den Jubel der Zuschauer zu hören", begründete Stich seine Entscheidung.

Becker: "Ich hasse nicht"

Becker hatte seine Revanche für seine "schmerzvollste Erinnerung" bekommen. Von Revanche oder gar Rache sprach Becker aber anschließend nicht. "Das war eines meiner besten Matches, die ich je in Wimbledon gespielt habe, und eines der längsten. Ich bin kein Mann, der Rache sucht. Das ist für Leute, die hassen. Und ich hasse nicht." Stich nahm die Niederlage sportlich gelassen hin und zollte Becker Anerkennung für seine Leistung. "Wir beide wollten unbedingt gewinnen. Und dieses Mal haben wir beide das beste Tennis am gleichen Tag gespielt. Boris hat die Big Points gut gespielt. Ich hatte meine Chancen, habe sie aber nicht ergriffen. Ich glaube, dass der Unterschied in diesem Match war, dass Boris nie seine Fassung verloren hat. 1991 hat er die ganze Zeit mit sich selbst gestritten. Er war heute mental sehr stark. Er hat nie ein Wort gesagt", erklärte Stich.

Die Schläger von Becker und Stich kreuzten sich in ihrem weiteren Karriereverlauf noch fünf weitere Male. Viermal gewann Becker, einmal setzte sich Stich durch - und das mit 6:0, 6:3 vor heimischem Publikum in Stuttgart. Viele Experten sahen in dem Gewinner des deutschen Viertelfinals auch den späteren Wimbledonsieger. Doch es kam anders. Becker verlor im Halbfinale in drei Sätzen gegen Pete Sampras, der dann seinen ersten von insgesamt sieben Wimbledontiteln gewann. Becker hatte "sein Wohnzimmer" dem nächsten König von Wimbledon überlassen. (Fotos: GEPA pictures)

von Christian Albrecht Barschel

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21.06.2013, 17:39 Uhr