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Carlos Alcaraz und das Moment der Spielfreude

Carlos Alcaraz fährt wohl als der große Favorit zu den French Open 2023. Wenn man dem Spanier aber seine Spielfreude nimmt, dann ist auch Alcaraz angreifbar. Das hat man in Rom gesehen. Der Tennis-Insider Marco Kühn analysiert ...

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 23.05.2023, 22:03 Uhr

Carlos Alcaraz fährt wohl als Favorit nach Paris
© Getty Images
Carlos Alcaraz fährt wohl als Favorit nach Paris

Seine rechte Hand fasste das Racket am Schlägerherz. Mit seiner linken Hand stützte er sich am Netz ab. Mit hängendem Kopf, resignierend und fast schon hilflos blickte er nach einem perfekten Stoppball seines Gegners Fabian Marozsan Richtung Trainerbox. Einen Blick, den man in den letzten zwei Jahren so gut wie nie von Carlos, dem Fröhlichen, gesehen hat. 

Alcaraz wurde beraubt. Der junge Ungar schaffte es, die größte Stärke im Spiel von Alcaraz auszuschalten: Spielfreude.

Was ist Spielfreude?

Ein kluger Stoppball gegen die Laufrichtung des Gegners. Chip n Charge, kombiniert mit einem starken Volleystopp direkt hinter`s Netz. Eine Vorhand, Inside-Out gespielt, direkt ins Eck des gegnerischen T-Felds. Im Idealfall mit so viel Topspin gespielt, dass sie aus dem Feld herausspringt. 

Spielfreude hat ihren Ursprung in spielerischer Kreativität. Ein Spieler mit purer Spielfreude spielt frei von Ängsten und Zweifeln das Tennis, welches er außerhalb des Platzes in seiner idealen Vision fast träumerisch durchgegangen ist. "Traumtennis", wenn man so will. Spielfreude ist das direkte Gegenteil von einem verunsicherten Spieler, der Angst hat den Ball schlagen zu müssen. Ein Spieler, der von wahrer Spielfreude lebt, spielt um zu gewinnen. Ein verunsicherter Spieler spielt, um nicht zu verlieren.

Warum ist Spielfreude für Carlos Alcaraz wichtig?

Ja, du ahnst es schon. Carlos Alcaraz lebt von seiner Spielfreude. Von dieser Leichtigkeit in seinem Spiel. Er scheint einen Knopf in seinem Kopf zu haben, der alle negativen Gedanken einfach abschaltet. Als hätte er eine Fernbedienung, mit der er jederzeit auf den Sender "Traumtennis TV" schalten kann. Ich erinnere mich an das Endspiel von Madrid gegen Jan-Lennard Struff. Alcaraz lag mit Break zurück, Struff spielte am Limit und Carlos im Gegenzug für seine Verhältnisse schwach - und Carlos lächelte. Er hatte Spaß, was für den Gegner immer gefährlich ist. Ganz egal, was der Spielstand sagt.

Und tatsächlich kam es so, wie man es vermuten konnte. Die Spielfreude von Alcaraz konnte Struffi nicht brechen. Carlos legte Traumstopps hinter die Netzkante, schoss unerreichbare Vorhände knapp vor die Grundlinie und entnervte Struff mit exzellenten Returns auf das taktisch clevere Serve-and-Volley-Spiel.

Hatte Struff viel falsch gemacht in diesem Match? Ganz sicher nicht. Er konnte, ohne sich selbst Vorwürfe machen zu müssen, stolz vom Court marschieren. Es war dann ein junger Spieler aus Ungarn, der es schaffen sollte diese einmalige Stärke im Spiel von Alcaraz, diese pure Spielfreude, zu brechen.

Wie hat Marozsan die Spielfreude bei Alcaraz zerstört?

Der Kommentator bei Tennis TV brachte es auf den Punkt: "Marozsan war heute der bessere Alcaraz!". Was genau meinte er damit? Fabian Marozsan spielte die Art von Tennis, die Alcaraz zur Nummer 1 gemacht hat: Starke Aufschläge, wuchtige Vorhände, flinke Füße und - Stopps. Kurzum: Marozsan zeigte mehr Spielfreude als Alcaraz.

In manchen Ballwechseln wirkte es fast wie Comedy. Als würde Marozsan Carlos, den Fröhlichen, ein wenig veräppeln wollen. Alcaraz, beim Return gern in der ersten Reihe des Publikums stehend, hatte gegen viele der gut getimten Stopps keine Chance. Marozsan traf, wie er wollte. Es schien, als hätte er Alcaraz die Fernbedienung geklaut und seinerseits den Sender "Traumtennis TV" eingeschaltet. 

Fast interessanter als das Match während der Ballwechsel, war das Match zwischen den Ballwechseln.

Alcaraz wurde seinem Lächeln beraubt. Marozsan auf der anderen Seite zeigte die mentale Qualität, die in solchen Matches ein Baustein zum Erfolg ist. Der junge Ungar war zu keiner Zeit des Matches zu euphorisch oder zu negativ. Er schien immer "im Jetzt" zu denken und zu spielen. Im Gegenzug veränderte sich bei Alcaraz etwas. Ein Markenzeichen seiner Körpersprache ist das zuversichtliche Kopfnicken Richtung Trainerbox. Marozsan, der Dieb der Spielfreude, bewirkte mit seiner Spielweise das direkte Gegenteil. Alcaraz schaute kopfschüttelnd zur Trainerbox.

Das Ergebnis dieses mentalen Spielchens war der Tiebreak des zweiten Satzes. Just als man dachte, Carlos dreht das Match, geschah erneut das direkte Gegenteil. Fabian Marozsan werkelte aus einem 1:4-Rückstand im Tiebreak ein 7:4 zum Sieg des Matches. 

Fazit

Klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass Alcaraz das nächste Duell dieser beiden Spieler gewinnt, ist hoch. Aber man kann dennoch einige Lehren aus dieser Sensation ziehen.

Hier sind drei dieser Lehren:

1) Stoppbälle durchbrechen nicht nur den spielerischen, sondern auch den gedanklichen Rhythmus des Gegners. Die Stopps müssen allerdings richtig, richtig gut sein. Sonst geht die Geschichte nach hinten los

2) Der innere Gemütszustand eines Spielers hat direkten Einfluss auf seine Performance im Match

3) Cool und konzentriert zu bleiben ist wichtiger, als in jedem Ballwechsel perfekt zu spielen. Fehler gehören in jedem Match dazu. Entscheidend ist, wie man auf diese Fehler reagiert

Und, zum Schluss: Wir haben derzeit im Tennissport so viele starke, junge Spieler wie schon lange nicht mehr. Wir dürfen uns auf viele tolle Matches mit einigen Überraschungen freuen.   

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Carlos Alcaraz

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Mittwoch
24.05.2023, 11:45 Uhr
zuletzt bearbeitet: 23.05.2023, 22:03 Uhr

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