"Federer und Nadal haben Tennis überflügelt"

Einst war er selbst Profi, heute ist er der Boss der ATP: Chris Kermode. Im Interview spricht der 51-jährige Engländer über den weltweiten Erfolg seiner Tour, notwendige Anpassungen an den Zuschauergeschmack, die rosige Zukunft der beiden Ausnahmespieler Dominic Thiem und Alexander Zverev sowie die alten Helden um Roger Federer und Rafael Nadal.

von Interview: Jens Huiber
zuletzt bearbeitet: 19.12.2016, 12:15 Uhr

Chris Kermode (l.) gratuliert Roger Federer, einem der Zugpferde seiner Tour

tennisnet.com: Herr Kermode, warum geht es der ATP-Tour aus Ihrer Sicht Ende 2016 besser als vor exakt einem Jahr?

Chris Kermode: Das Ende der ATP-World-Tour-Saison 2016 ist immer noch in frischer Erinnerung und ich glaube, dieses Ende wird als eines der spannendsten in die Geschichte unseres Sports eingehen. Es war einmalig, dass das Nummer-1-Ranking für beide Spieler im letzten Match der ATP-World-Tour-Finals zur Disposition gestanden hat. Am Jahresende die Nummer Eins der Weltrangliste zu sein, ist die absolut größte Leistung in unserem Sport. Und das Finish, das wir in London erlebt haben, hat alles mitgebracht, was unsere Tour auszeichnet.

tennisnet.com: Wie fällt Ihr Fazit in Sachen Zahlen aus?

Kermode: Natürlich sind wir auch 2016 vor Herausforderungen gestanden, aber es freut mich, berichten zu können, dass die Tour stark dasteht. Unsere Zuschauerzahlen bei den ATP-Turnieren bleiben mit 4,3 Millionen Fans 2016 äußerst gut, während unsere TV-Zuseher-Zahlen etwa bei einer Milliarde gelegen haben - ein phänomenaler Meilenstein. Und die Unterstützung aus der Wirtschaft ist weiterhin sehr groß. Auf der sportlichen Seite hatten wir ein paar faszinierende Geschichten, nicht nur an der Spitze, sondern auch mit der Weiterentwicklung unserer #NextGen-Spieler, die sich immer weiter verbessern und in der Weltrangliste nach oben klettern. Die Saison 2017 hat also beste Voraussetzungen, als eine der faszinierendsten in die ATP-Geschichte einzugehen.

tennisnet.com: Sie sind sehr aktiv bei der Förderung der jüngeren Spieler. Zuletzt sogar mit der Einführung eines Saison-Abschlussturniers für die eben angesprochene #NextGen. Dort werden auch neue Regeln erprobt. Wie wichtig ist das für den Tennissport? Und wie reagieren die arrivierten Spieler darauf?

Editorial - Tennisnet und SPOX: We are One!

Kermode: Ich glaube zumindest, dass wir die Verpflichtung haben, auf mögliche zukünftige Innovationen für unser Produkt zu achten. Und wir werden einige nächstes Jahr bei den #NextGen-ATP-Finals in Mailand sehen. Ganz generell sind die Menschen eher gegen Änderungen, und das trifft sicherlich auch auf unseren Sport zu. Aber wir müssen sicherstellen, dass unser Sport relevant und für die nächste Generation an Fans attraktiv bleibt. Das ist unsere Verantwortung, deshalb müssen wir auf potenzielle Änderungen schauen. Vielleicht sagen wir am Ende, alles soll beim Alten bleiben, aber wir sollten es zumindest einmal ausprobiert haben.

tennisnet.com: Bei den ATP-World-Tour-Finals in London waren erstmals acht Profis aus acht verschiedenen Ländern am Start. Wenn Sie sich eine Region in der Welt aussuchen könnten, die auch einen Spieler in London aufschlagen lassen könnte - welche wäre das?

Kermode: Ich würde niemals ein einzelnes Land herauspicken. 2016 war übrigens auch das erste Jahr seit 1973, in dem wir am Jahresende in den Top Ten des ATP-Rankings zehn Spieler aus zehn verschiedenen Ländern hatten. Für mich ist es wichtig, über den ganzen Erdball repräsentiert zu werden. Und wir sind in der glücklichen Lage, dass im professionellen Herren-Tennis die Spieler aus verschiedensten geographischen Lagen kommen. Ganz besonders - mit Blick auf die Zukunft - kommt die Gruppe an Talenten der #NextGen-Spieler von überall her. Wir haben Jungs aus Australien, den USA, Europa, Asien und so weiter.

tennisnet.com: Apropos Zukunft. Welches ist die dringendste Frage, die das professionelle Tennis in den kommenden Jahren beantworten muss?

Kermode: Die ATP World Tour ist in den vergangenen zehn Jahren unheimlich gewachsen. Wir hatten wahrscheinlich die beste Generation an Spielern aller Zeiten, kombiniert mit unseren weltweit präsenten Turnieren, was uns Rekord-Zuschauerzahlen in den Stadien, im TV und online beschert hat. Unsere Tour wird im TV von etwa einer Milliarde Menschen verfolgt, und die wirtschaftliche Unterstützung ist stärker denn je. Nun, wie können wir dieses Wachstum beibehalten, und gleichzeitig dafür sorgen, dass unser Sport in den nächsten zehn bis 15 Jahren relevant bleibt? Wir müssen ganz bewusst nicht nur über die nächste Generation von Spielern, sondern auch über die nächste Generation der Fans sprechen. Das Konsumverhalten unserer Fans ändert sich mit hoher Geschwindigkeit, wir müssen darauf vorbereitet sein, uns anzupassen. Nicht nur unser Produkt, sondern auch, wie wir es verpacken und in Zukunft verkaufen.

tennisnet.com: Bei den Australian Open wird das Preisgeld für das Qualifikations-Turnier und die ersten beiden Runden des Hauptwettbewerbs erhöht. Das wird den niedriger gerankten Spielern helfen. Im Moment scheint es so, als ob etwa 150 Spieler (im Einzel und Doppel) ein gutes Auskommen als Tennisprofi haben können. Wo sollte diese Zahl Ihrer Meinung nach liegen?

Kermode: Das ist eine sehr gute Frage, die ich mit meinem Team bei der ATP ausführlich besprochen habe. Wir glauben, dass diese Zahl wachsen muss und dass dies eine Priorität für die Zukunft der ATP-Tour sein sollte. Aber eine genaue Anzahl können wir nicht vorgeben. Wir möchten, dass so viele Spieler wie möglich vom professionellen Tennis leben können. Das hängt größtenteils davon ab, wie viele Turniere es dauerhaft gibt. Wir haben in den vergangenen Jahren das Preisgeld bei den ATP- und den Grand-Slam-Turnieren signifikant erhöht. Im Jahr 2018 soll das gesamte Preisgeld auf der Tour mehr als 130 Millionen US Dollar betragen, eine Steigerung um mehr als 100 Prozent über einen Zeitraum von zehn Jahren. Auch auf der Challenger-Ebene ist es mehr geworden. Bei unserer Planung über 2018 hinaus haben wir aber auch ein Auge auf die tatsächliche Verteilung Runde für Runde bei den Turnieren. Hier das richtige Verhältnis zu finden, wird ein Schlüsselfaktor dafür sein, den Tennissport als lohnenswerten Karrierepfad für so viele Spieler wie möglich darzustellen.

tennisnet.com: Wie besorgt ist die ATP eigentlich über die schwindende Free-TV-Präsenz in Deutschland? Wird Tennis zum Pay-TV-Sport?

Kermode: Zuerst muss man noch einmal festhalten, dass es aus einer globalen Perspektive keine schwindende TV-Präsenz gibt. Wenn man nun ganz speziell auf den deutschen Markt schaut, hatten wir vor sechs Jahren überhaupt keinen TV-Vertrag. Sport1 hat eine Gelegenheit geschaffen, die ATP-Tour zurück zu den deutschen Zuschauern zu bringen, und der Vertrag mit Sky bedeutet eine weitere Steigerung unserer Präsenz in diesem wichtigen Markt. Pay-TV war ein Türöffner für umfangreichere Berichterstattung, hat mehr Inhalte mit flexibleren Zeitplänen angeboten. Und das alles, während Spieler wie Alexander Zverev und Dominic Thiem deutlich steigendes Interesse an unserem Sport in dieser Region schaffen.

tennisnet.com: Wie bewerten Sie die Turniere in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Moment - und deren Chancen auf der ATP-Tour in der Zukunft?

Kermode: Deutschland, Österreich und die Schweiz sind im Kalender der ATP-Tour sehr gut vertreten. Zusammen kommen sie auf neun Events, mit drei ATP-World-Tour-500-Turnieren und sechs ATP-250ern. Die Zukunft sieht sehr rosig für diese Region aus, vor allem wegen Spielern wie Zverev und Thiem, die in den kommenden Jahren an der Spitze unseres Sports mitspielen werden. Es hilft Turnieren immer, wenn es lokale Helden gibt. Auf der anderen Seite glaube ich nicht, dass irgendjemand die Erfolge vorhergesehen hat, die die Schweiz in den vergangenen Jahren mit Roger und Stan hatte. Das war einfach großartig.

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tennisnet.com: Zverev und Thiem sind wie angesprochen die Zugpferde in Deutschland und Österreich. Wie bewerten Sie deren bisherige Entwicklung - und wie sehen Sie die Chancen, dass sich die beiden 2017 weiter verbessern?

Kermode: Ich könnte keine höhere Meinung von diesen beiden Spielern haben. Sowohl Österreich als auch Deutschland können sich glücklich schätzen, dass sie zwei der wahrscheinlich größten zukünftigen Stars auf der ATP-Tour haben. Sie haben beide ein unglaubliches Talent und haben sich schnell in der Weltrangliste empor gearbeitet. Es wird faszinierend sein, ihren Fortschritt in den kommenden Jahren zu verfolgen.

tennisnet.com: Lassen Sie uns noch einmal über die deutschen Turniere sprechen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Deutschland in Hamburg ein Turnier der 1000er-Kategorie. Wie realistisch ist es, dass die deutschen Fans in der nahen Zukunft eine solche Veranstaltung wieder in der Heimat zu sehen bekommen?

Kermode: Diese Frage bekomme ich sehr häufig gestellt, überall auf der Welt. Die Nachfrage nach ATP-World-Tour-Tennis ist weltweit groß, ganz besonders nach jenen auf Masters-1000-Level. Im Moment haben wir neun Masters-1000-Turniere. Wenn man bedenkt, dass diese Turniere für unsere Top-Spieler verpflichtend sind, ist diese Anzahl eigentlich genau richtig. Unsere Top-Turniere funktionieren auf der Basis, dass unsere Top-Spieler auch an diesen teilnehmen und um den Sieg spielen. Das setzen unsere Fans, unsere TV-Partner und TV-Zuseher voraus und es ist essenziell, dass wir dieses Premium-Produkt so belassen, wie es ist. Wenn aber ein Lizenzinhaber wünscht, seine Lizenz zu verkaufen oder sein Turnier an einen anderen Ort zu verlegen, dann wird das ATP-Board darüber Fall für Fall abstimmen.

tennisnet.com: In diesem Jahr hat das Turnier in Hamburg auch durch den Terminkonflikt mit dem Davis Cup aufgrund der Olympischen Spiele gelitten. Was kann die ATP in Zukunft tun, um derartige Probleme zu vermeiden?

Kermode: Es ist keine Frage, dass die Olympischen Spiele alle vier Jahre Herausforderungen bei der Terminplanung mit sich bringen. Wir werden weiterhin mit der ITF zusammenarbeiten, um zukünftig die Auswirkungen von Olympia auf die ATP-World-Tour-Turniere zu minimieren.

tennisnet.com: David Haggerty, der Präsident der ITF, denkt derweil über Änderungen am Davis-Cup-Format nach. Inwieweit ist die ATP in diese Diskussionen involviert?

Kermode: Wir haben ein gutes Arbeitsverhältnis mit allen Institutionen des Welttennis. Das Format des Davis Cups wird seit vielen Jahren diskutiert. Obwohl wir dafür nicht verantwortlich sind, treffen wir uns in regelmäßigen Abständen mit der ITF, um die Sicht der Dinge unserer Spieler und unserer Turniere darzulegen - mit Blick auf den Spielplan und das Format.

tennisnet.com: Novak Djokovic und Andy Murray repräsentieren die Profis im ATP-Spielerrat. Wie viel Einfluss nimmt dieses Duo hinsichtlich der Terminplanung, Formaten und so weiter?

Kermode: Es ist von großem Vorteil, dass die Top-Spieler in einer offiziellen Rolle am Entscheidungsprozess in unserem Sport teilnehmen. Wir haben das mit Roger Federer gesehen, der sechs Jahre lang Präsident des Spielerrates war. Und jetzt freuen wir uns, dass Novak und Andy sich einbringen. Ich bin unglaublich beeindruckt, wie engagiert sie waren und sind. Das ist auf der einen Seite unheimlich positiv für uns, andererseits aber auch für sie, damit sie vollständig verstehen, wie die Tour im Gesamten abläuft, auch hinter den Kulissen.

tennisnet.com: Wie wichtig ist es für die ATP, dass Roger Federer und Rafael Nadal nicht nur gesund zurückkommen, sondern auch sofort wieder um große Titel mitspielen?

Kermode: Ich glaube, jeder freut sich auf die Rückkehr von Roger und Rafa. Sie sind ikonische, globale Sport-Stars, die unseren Sport längst überflügelt haben. Natürlich werden solche Spieler schmerzlich vermisst, jedes Mal, wenn sie auch nur kurz fehlen. Ich bin mir sicher, dass sie im nächsten Jahr ganz an der Spitze mitspielen werden.

Die Weltrangliste im Überblick

von Interview: Jens Huiber

Montag
19.12.2016, 12:15 Uhr