Als der Tennissport seine Unschuld verlor

tennisnet.com blickt auf das tragische Ereignis am 30. April 1993 in Hamburg zurück, das die Tenniswelt für immer verändern sollte.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 30.04.2013, 09:17 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsabend am 30. April 1993, als sich die Tenniswelt für immer verändern sollte. Beim Damenturnier am Hamburger Rothenbaum standen an jenem Freitag die Viertelfinalbegegnungen auf dem Plan. Auf dem Center Court spulte Monica Seles ihr gewohntes Programm ab. Harte Grundschläge und lautes Stöhnen waren das Markenzeichen der gebürtigen Jugoslawin, die bis zu diesem Zeitpunkt seit 19 Monaten ununterbrochen auf Platz eins in der Weltrangliste stand und schon acht Grand-Slam-Siege erreichen konnte. Seles war auf dem Weg eine neue Ära im Damentennis zu prägen, eilte von Sieg zu Sieg und auch der Gewinn des Grand Slams (Sieg bei allen vier Grand-Slam-Turnieren in einem Jahr) war sehr realistisch.

Hamburg war das erste Turnier nach einer Auszeit von sieben Wochen für die damals 19-Jährige, die in ihrem jungen Teenageralter schon so viel erlebt und durchgemacht hatte. In ihrem Viertelfinale gegen die Bulgarin Magdalena Maleeva lag Seles mit 6:4, 4:3 in Führung und eilte mit großen Schritten zum Traumfinale gegen ihre Dauerrivalin Steffi Graf. Als Seles sich auf ihren Stuhl zur Seitenwechselpause setzte, nahm das Unheil seinen Lauf. Sie trank einen Schluck Wasser, wischte sich den Schweiß von der Stirn, bis plötzlich ein lauter Schrei von ihr durch das Stadion ging.

"Ein Mann mit einem bösartigen, höhnischen Grinsen"

Ein 22-Zentimeter langes Küchenmesser wurde Seles in den Rücken gestochen und weder Zuschauer vor Ort noch vor dem Fernseher konnten begreifen, was gerade passierte. Sie lief, bevor der Attentäter ein zweites Mal zustechen konnte, in Richtung Netz, um kurze Zeit später zusammenzubrechen. "Reflexartig drehte ich meinen Kopf zu der schmerzvollen Stelle und sah einen Mann mit einem bösartigen, höhnischen Grinsen im Gesicht. In seiner Hand: Ein langes Messer! Er hat mir damit Millimeter neben die Wirbelsäule gestochen. Ärzte sagten mir später, hätte ich mich in diesem Moment nicht nach vorne gebeugt, hätte ich gelähmt sein können" berichtete Seles später in ihrer schonungslos offenen Biografie "Getting a Grip".

Der Mann mit dem bösartigen Grinsen war Günter Parche, der bevor noch größeren Schaden anrichten konnte, von zwei Zuschauern überwältigt wurde. Der arbeitslose Dreher aus Thüringen hatte ein Attentat lange geplant. Denn Parche konnte es nicht ertragen, dass Seles seiner Steffi Graf, die er abgöttisch verehrte, den Rang abgelaufen und von der Weltranglistenspitze verdrängt hatte. Sein Ziel war es, Seles so zu verletzen, dass sie nicht mehr Tennis spielen konnte und Graf wieder die Nummer eins im Damentennis wurde. Auf die Frage, ob es wehtat, als ihr das Messer in den Rücken gestochen wurde, gab Seles an: "Es hat sehr weh getan. Es war ein grausamer Schmerz. Es war so ein schlimmer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können."

Körperliche Wunden heilen, seelische Wunden bleiben

Mit seinem Messerattentat erreichte Parche sein Ziel und kam nahezu ungeschoren davon. Zwei Jahre auf Bewährung aufgrund seiner abnormalen Persönlichkeit lautete die Strafe, die für das Opfer Seles unverständlich war. "Was für eine Botschaft sendet das in die Welt? Herr Parche hat zugegeben, dass er mich verfolgt hat, er hat mich einmal niedergestochen. Und nun hat das Gericht gesagt, dass er nicht ins Gefängnis muss für sein geplantes Verbrechen. Er kehrt zurück in sein Leben, aber ich kann es nicht, weil ich mich immer noch von dem Attentat erhole, das mich hätte umbringen können. Ich kann nicht verstehen, warum dieser Mensch nicht für seine Tat büßen musste", meinte die heutige US‐Amerikanerin.

Die körperlichen Wunden nach dem Messerattentat verheilten schnell. Laut Aussage der Ärzte hätte Seles schon nach gut drei Monaten wieder auf dem Platz stehen können. Doch die seelischen Narben waren einfach zu groß, die eine schnelle Rückkehr in den Tenniszirkus unmöglich machten. "Ich bin niedergestochen worden auf dem Tennisplatz vor zehntausend Leuten. Es ist nicht möglich distanziert darüber zu sprechen. Es veränderte meine Karriere unwiderruflich und beschädigte meine Seele. Ein Sekundenbruchteil machte aus mir einen anderen Menschen" gab Seles offen zu. Seles hatte mit Angstzuständen, Depressionen und Alpträumen zu kämpfen und begab sich in eine psychologische Therapie, ehe sie im August 1995 auf die WTA-Tour zurückkehrte.

"Essen war mein Freund, Essen war immer für mich da"

Ihr Comeback gelang auf Anhieb mit einem Turniersieg in Toronto. Kurze Zeit später schaffte sie den Einzug in das Finale der US Open, in dem sie auf Steffi Graf traf. Ein Duell, das die Erinnerung an das Messerattentat wieder in ihr Gedächtnis brachte und auf das die ganze Welt wartete. Seles verlor das Match gegen die Deutsche in drei Sätzen und setze später ihr Comeback mit dem Sieg bei den Australian Open im Jahre 1996 fort. Doch in die Form der früheren Jahre kam die Linkshänderin nie wieder. Als 1998 auch noch ihr innig geliebter Vater Karolj an einer langjährigen Krebserkrankung starb, bekämpfte Seles ihren Kummer mit Essen und verfiel der Fresssucht.

"Essen wurde der einzige Ausweg, um die Dämonen in mir zu beruhigen. Ich aß sehr viel, fand nur so Trost. Essen war mein Freund, Essen war immer für mich da. Sei es um 7 Uhr morgens oder 11 Uhr abends, wenn ich in Paris, Peking oder New York gespielt habe", schilderte Seles die damalige Situation. Die Presse ging auch nicht gerade zimperlich mit ihr um, nannte sie eine "Sumoringerin" und ein "altes Weib mit einer Bratpfanne". Stand vor der Messerattentat immer ihr "lautes Grunzen" im Mittelpunkt, waren es jetzt ihre "Donnerschenkel".

Seles kommt nie wieder nach Deutschland

Im Jahre 2003 bestritt Seles, die inzwischen von der ungeliebten Königin des Stöhnens zum Publikumsliebling avancierte, bei den French Open ihr letztes Profimatch. Fünf Jahre später verkündete sie schließlich ihr Karriereende aufgrund von chronischen Fuß‐ und Rückenschmerzen. "Ich habe so lange damit gewartet meinen Rücktritt offiziell zu verkünden, weil ich absolut sicher gehen wollte, dass es die richtige Entscheidung ist." Den jahrelangen Kampf gegen das Essen hat sie mittlerweile gewonnen. Sie ist wieder schlank, glücklich und voller Lebensfreude.

In Deutschland war Seles seit dem Messerattentat nie wieder. Mit dem Urteil gegen Günter Parche konnte sie sich nicht abfinden und kehrte Deutschland den Rücken zu. Obwohl sie gerne wieder in Deutschland spielen wollte, hielt sie an ihren Prinzipien fest. "Dies ist nun einmal das Land, das den Mann, der mich angegriffen hat, nicht ausreichend bestrafte", begründete sie ihre Entscheidung. Auch über die Tatsache, dass das Turnier nach dem Messerattentat fortgesetzt wurde, beklagte sie sich. "Das Turnier ging weiter, als wäre nichts passiert? Es ging nur ums Geld!". Steffi Graf schaute zwei Tage nach dem Messerattentat im Hamburger Krankenhaus bei ihr vorbei. Doch viel zu reden gab es zwischen den beiden nicht. "Es ist nicht einfach damit zu leben, zu wissen, dass ich die Nummer eins bin, weil sie niedergestochen wurde", kommentierte Graf die damalige Situation.

Was wäre, wenn...?

Auch die Tatsache, dass die Spitzenspielerinnen wenig später in Rom gegen die Einfrierung ihrer Nummer-eins-Position gestimmt haben, missfiel Seles außerordentlich. "Jede Spielerin, außer Gabriela Sabatini, die sich enthielt, sprach sich gegen eine Einfrierung aus. Ich war verletzt, als ich die Nachricht hörte. Aber vom geschäftlichen Standpunkt hätte ich nicht überrascht sein dürfen. Einen Platz in der Rangliste zu klettern, kann zu mehr Geld und neuen Sponsoren führen. Die Leute machen sehr viel Geld, während ich weg war. Ein Sponsorendeal, der mir vor dem Messerattentat angeboten wurde, bekam nun Steffi, die neue Nummer eins."

Seit dem schwarzen Freitag am 30. April 1993 in Hamburg hatte sich die Tenniswelt verändert. Bei den meisten Turnieren steht jetzt Sicherheitspersonal vor den Spielerbänken, damit solch eine Tat nie wieder passiert. Für die heute 39‐Jährige kam diese Maßnahme zu spät. Es bleibt die Frage, wie die Karriere von Monica Seles verlaufen wäre, wenn das Messerattentat am Hamburger Rothenbaum nicht geschehen wäre. Wahrscheinlich wäre sie zur erfolgreichsten Tennisspielerin aller Zeiten aufgestiegen. Doch Seles will sich nicht mit diesen Fragen beschäftigen. "Ich wäre längst verrückt geworden, wenn ich mich das ständig gefragt hätte. Die Was-wäre-wenn-Fragen sind natürlich da. Aber ich denke, die Schwierigkeiten haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich bin jetzt ein viel glücklicher Mensch, als ich es vorher war."

von Christian Albrecht Barschel

Dienstag
30.04.2013, 09:17 Uhr