Deutsche Nachwuchs-Sorgen: Neidvoller Blick nach Italien

Was kommt bei den Frauen nach Angelique Kerber? Wie sieht es bei den Männern abseits von Alexander Zverev aus? Die Perspektiven für das deutsche Tennis waren schon mal besser.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 24.01.2022, 15:16 Uhr

Rudi Molleker - einst die größte Hoffnung im deutschen Männertennis
© Getty Images
Rudi Molleker - einst die größte Hoffnung im deutschen Männertennis

Es müssen nicht immer die großen Namen sein, die große Geschichten im Sport schreiben. Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. Alize Cornet, die 32-jährige Französin, schuf am Montag bei den Australian Open so eine denkwürdige Geschichte jenseits der Tennis-Superstars. Seit 2007 war sie bei jedem Grand Slam-Turnier angetreten, nur eins hatte die Nummer 61 der Weltrangliste bis zu diesem 24. Januar 2022 nicht geschafft – in die Runde der letzten Acht einzuziehen, in ziemlich exklusives Terrain. Und dann dies: Eine Hitzeschlacht in Melbourne, 33 Grad im Schatten, ein herausforderndes Duell gegen die frühere Weltranglisten-Erste Simona Halep, ein Kampf fast bis zum Umfallen. Dann der 6:4, 3:6, 6:4-Sieg, das denkwürdige Bild ihres Kniefalls auf dem Centre Court, viele Tränen des Glücks nach dem lang erträumten Viertelfinal-Durchbruch im sage und schreibe 63. Anlauf. Ein Sieg der Zähigkeit, der Unverdrossenheit, der nie versiegenden Willenskraft. Ein Sieg, über den Cornet später sagte: „Es lohnt sich, niemals aufzugeben. Und immer an sich zu glauben, auch wenn es kein anderer mehr tut.“

Vielleicht wird Barbara Rittner, die deutsche Damentennis-Chefin, ihren Nachwuchskräften demnächst einmal das Beispiel Cornets vor Augen führen – dann, wenn es um Karrieren im Tennis geht, ums Dranbleiben in diesem bewegten und bewegenden Sport, um Motivation, Fleiß und Beharrlichkeit. Rittner und die anderen Verantwortlichen des größten Tennisverbandes der Welt hatten ja nicht viel zu lachen gehabt bei den laufenden Australian Open, erst scheiterte in der Auftaktrunde die dreimalige Grand Slam-Siegerin Angelique Kerber, dann verlor nach knapp einer Woche Alexander Zverev viel zu früh bei seiner erträumten Titelmission – im Achtelfinale nach einem Katastrophenauftritt gegen den Kanadier Denis Shapovalov

Notstand im globalen Talent-Wettbewerb

Doch die Beschwerlichkeiten der beiden Frontfiguren und null Überraschungen vom Restkontingent waren nur das eine Problem – denn dieser Auftakt-Grand Slam ins Spieljahr 2022 beleuchtete auch eindringlich die deutsche Überalterung in der Spitze. Sprich: Wo in Melbourne – und nicht nur dort – Nachwuchskräfte wie Clara Tauson, Amanda Anisimova, Iga Swiatek, Jannik Sinner, Carlos Alcaraz, Felix Auger-Aliassime oder Sebastian Korda für Furore sorgen, herrscht in Deutschland eher Notstand im globalen Talentwettbewerb. Weder bei Herren noch Damen streiten derzeit Profis in der Altersgruppe Anfang Zwanzig auf Topniveau mit den Besten, im Revier von Rittner lasten die Hoffnungen sogar noch immer auf den letzten Vertreterinnen der goldenen Generation: Kerber und deren Freundin Andrea Petkovic, die gegenwärtig als einzige DTB-Vertreterinnen unter den Top 100 grüßen. Bei den Herren ist Zverev gerade wieder zum Einzelkämpfer geworden, der den ganzen Erwartungsballast schultern muss. Ein Spieler, der neben Zverev ernsthafte Ambitionen auf einen Platz in der engeren Weltspitze anmelden könnte, ist weit und breit nicht in Sicht.

Immerhin kann DTB-Herrenchef Michael Kohlmann noch fünf Spieler vorweisen, die hinter Zverev auf Positionen zwischen Platz 50 und Platz 100 in der Weltrangliste auftauchen – unter 25 Jahren ist allerdings nur einer von ihnen, der Kempener Daniel Altmaier (23), der in der ersten Melbourne-Runde gegen Zverev verlor. Auffällig bei den Männern sind die vielen Karriereumwege, oft auch jenseits der DTB-Institutionen. Der gegenwärtig drittbeste Deutsche, der Furtwangener Dominik Koepfer, schaffte den Sprung ins Spitzentennis wie vor ihm auch Alex Waske oder Benjamin Becker über das US-amerikanische Collegetennis. Bemerkenswert ist auch, wie oft sich hochgehandelte Junioren früh im Karriere-Dschungel verirren – der schnell gehypte Brandenburger Rudi Molleker etwa verzeichnete mehr Trainerwechsel als Pokalgewinne in seiner jungen, bereits extrem komplizierten Tennisbiografie.

Italien hat Sinner, Berrettini, Musetti

Neidisch blicken viele deutsche Funktionäre und Fans auf das neue Musterland Italien, das eine ganze Gruppe junger Spitzenspieler vorzeigen kann – allen voran die beiden Top Ten-Akteure Matteo Berrettini und Jannik Sinner, daneben aber auch noch einen weiteren Perspektivmann wie den 19-jährigen Lorenzo Musetti. Italien habe sich in den letzten Jahren schrittweise an die großen Nationen herangearbeitet, mit einem effektiven Fördersystem und einer „tollen Turnierlandschaft gerade unterhalb der großen Tour“, sagt Experte Boris Becker. Er sagt allerdings auch: „Viele Jüngere hierzulande vergessen, dass Federer, Nadal und Djokovic vor allem auch Trainings-Weltmeister waren.“

Damit trifft der jüngste Wimbledonsieger aller Zeiten und ehemalige Herrenboss beim DTB ein Thema, das Ex-Kollegin Rittner nur zu gut kennt – eine fehlende Härte beim Nachwuchs, ein Mentalitätsproblem. Viele aussichtsreiche Spielerinnen aus früheren Jahrgängen hat Rittner schon kommen und schnell gehen sehen, Topjuniorinnen wie Marlene Weingärtner, Annika Beck oder auch Antonia Lottner schafften genau so wenig wie die sehr talentierte Hamburgerin Carina Witthöft den Sprung in die Weltklasse. Besserung ist nicht schnell in Sicht, urteilt Rittner, bei Teenagern sei der Biss, die Leidenschaft und der Durchsetzungswille aktuell geringer ausgeprägt als in vorherigen Generationen: „Viele sind nicht bereit, ihre Komfortzone zu verlassen.“ Umso bedauerlicher in einem Moment, da die deutsche Turnierszene mit den Wettbewerben in Berlin, Bad Homburg und auch Köln wiederbelebt wurde.

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24.01.2022, 18:10 Uhr
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