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Die Skandalakte Nick Kyrgios: ATP mit einer langen Sperre?

Nick Kyrgios hat vor seinem Zweitrundenmatch gegen Antoine Hoang (FRA, ab 23 Uhr im Livescore) Sorgen abseits des Tennisplatzes. Dem Australier droht nach den letzten Aussagen eine lange Sperre der ATP.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 29.08.2019, 12:17 Uhr

Es war schon jenseits von Mitternacht, als Nick Kyrgios im Louis Armstrong-Stadion urplötzlich sein Herz gegenüber einem Balljungen ausschüttete: „Ich hätte mir keinen langweiligeren Sport als Profi aussuchen können“, sagte der Australier kopfschüttelnd, ehe er zum nächsten Ballwechsel seines Erstrunden-Matches bei den US Open gegen den Amerikaner Steve Johnson schritt.

Viele im Herrentennis würden nur zu gerne sehen, wenn sich Kyrgios tatsächlich einen anderen Job suchen würde, möglichst weit weg vom Wanderzirkus. Der 24-jährige Australier, längst so etwas wie der böse Bube seines Sports, geht den Akteuren der Branche inzwischen gehörig auf die Nerven – Schiedsrichtern genau so wie Offiziellen, aber auch den meisten seiner Kollegen.

Als Kyrgios am frühen Mittwochmorgen wieder einmal seine Mätzchen machte im gewonnenen Duell mit Johnson, hitzige Diskussionen mit dem Referee führte, sich Tiraden gegen einige Fans leistete, sprach Johnson wohl stellvertretend für das Gros seiner Kollegen den Satz: „Junge, lass uns verdammt noch mal jetzt Tennis spielen.“ 

Nick Kyrgios: Rekordstrafe in Cincinnati

Kyrgios, hochtalentiert, aber charakterlich extrem labil, hat in diesem Jahr die Grenzen der Toleranz bei seinen Weggefährten und den Offiziellen der Tennistour immer wieder schwer ausgetestet. Jüngst kassierte er bei seinem Gastspiel in Cincinnati eine der massivsten Strafen, die je einem Profi aufgebrummt wurde – die Zwangsgebühr für allerlei Verfehlungen wie Schlägerzerstörung oder Spucken in Richtung des Schiedsrichters belief sich auf 100.000 Euro.

Anschließend kündigte die Profiorganisation ATP an, sie werde prüfen, ob es sich bei Kyrgios´ Verhalten um einen sogenannten „großen Verstoß“ gegen das Regelwerk handelt, der noch gesondert zu bestrafen sei, etwa mit einer Sperre. 

Nun aber liegt sogar noch ein weiterer Skandalakt von Kyrgios auf dem Tisch, der den Druck auf die ATP erhöhen dürfte, endlich zu handeln gegen den freien Radikalen vom Fünften Kontinent. Denn als Kyrgios´ in seiner Pressekonferenz nach dem Match gegen Johnson gefragt wurde, wie er die Strafe von Cincinnati bewertet und weggesteckt habe, sagte er ungerührt: „Das kümmert mich nicht besonders. Die ATP ist sowieso korrupt.“

Nick Kyrgios hatte auch am Dienstag einiges zu sagen
Nick Kyrgios hatte auch am Dienstag einiges zu sagen

Nick Kyrgios mit Rechtfertigung auf Social Media

Anderntags, kurz nachdem die ATP verlauten ließ, sie werde diese Aussage auch auf den Tatbestand eines „Major offense“ prüfen, versuchte Kyrgios sich halbgar und geradezu bizarr aus der Sache herauszureden. Die Wortwahl sei falsch gewesen, so Kyrgios, allerdings habe er im Kern nichts zurückzunehmen, im Tennisbetrieb gebe es „Doppelstandards“. Er werde für Dinge bestraft, die man anderen durchgehen lasse.

War die Relativierung und Beschwichtigung wirklich ein wenig Einsicht bei dem Exzentriker – oder trieb ihn, nahe liegend, nur Angst vor einer längeren Sperre um, die Angst vor einem erzwungenen Saisonende schon nach den US Open? In den sozialen Medien wurde der Australier eher verlacht für sein scheinbares Zurückweichen. Schließlich sei genau er es, der von einer Vorzugsbehandlung profitiere.

Mit Spannung erwartet die Branche nun, ob die ATP ihre schier ewige Duldungspolitik gegenüber dem Rüpel beendete. Denn seit Kyrgios regelmäßig seine seltsamen Shows auf den Courts abzieht, Schiedsrichter, Fans und Offizielle beleidigt, ist er ja noch nie wirklich hart und empfindlich sanktioniert worden. Kyrgios kam mit vielem durch, obwohl er als Wiederholungstäter schon mehrfach für eine längere Strafe ins Visier hätte geraten müssen.

Schon 2016 hatte man ihn einmal nach einem komplett abgeschenkten Match in Schanghai für acht Wochen gesperrt, die Sperre wurde dann aber auf drei Wochen reduziert, weil sich Kyrgios, wie gefordert, in psychologische Behandlung begeben hatte. Aber kuriert war er nicht im mindesten, ganz im Gegenteil.

Nick Kyrgios: Ausraster in Rom, Strafe der ATP?

Über mehrere Spielzeiten zieht sich die Skandalchronik des Australiers nun schon hin, 300.000 Dollar Strafgelder hat man ihm bereits auferlegt. 2019 trieb er es besonders schlimm. Wohin Kyrgios zuletzt ja auch kam – es gab stets Ärger, Skandale, Probleme. Schon beim Masters in Rom wurde Kyrgios in dieser Saison disqualifiziert.

Aber die ATP blieb vergleichweise zahm in ihrem Bestrafungsregime, vielleicht auch, weil Kyrgios Schlagzeilen lieferte und beim jugendlichen Publikum ankam. Besser schlechte Schlagzeilen als gar keine Schlagzeilen? Zuweilen hörte man von Topleuten der ATP die Entschuldigungsformel, Kyrgios sei ja „gut fürs Tennis“ , ganz so, als gälten für ihn keine Regeln mehr, als könne er sich wegen seiner schillernden Existenz alles erlauben.

Gerade erst hat die ATP den argentinischen Schiedsrichter Damian Steiner hochkant aus der Tennistour hinausbefördert. Seine Verfehlung: Der Referee, der in Wimbledon das Finale von Roger Federer gegen Novak Djokovic geleitet hatte, gab unautorisiert einige Interviews in seinem Heimatland. Er regte in der überwiegend harmlosen Konversation dabei auch Regeländerungen an, etwa Einschränkungen beim Gebrauch von Handtüchern.

Jetzt stellt sich allerdings die Glaubwürdigkeitsfrage für die Regelhüter der ATP: Drakonische Strafe für einen drauflos plaudernden Schiedsrichter – und wieder nur Laissez-faire bei Kyrgios, dem Seriensünder, der erst von Korruption im eigenen Haus, dann von gezielter Diskriminierung gegen seine Person spricht.

von Jörg Allmeroth

Donnerstag
29.08.2019, 16:00 Uhr
zuletzt bearbeitet: 29.08.2019, 12:17 Uhr