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French Open 2022: Rafael Nadal - Der Normalo im Glitzerbetrieb des Tenniscircuits

Rafael Nadal hält nach seinem neuerlichen Triumph in Roland Garros bei 22 Grand-Slam-Titeln. Das Ende sieht der Spanier trotz seiner chronischen Fußverletzung noch nicht gekommen.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 06.06.2022, 10:42 Uhr

Rafael Nadal durfte in Paris wieder einmal jubeln
© Getty Images
Rafael Nadal durfte in Paris wieder einmal jubeln

Als Pete Sampras 2002 mit erstaunlichen 14 Grand Slam-Titeln in den wohlverdienten Ruhestand trat, war das Urteil der versammelten Experten-Heere schnell gefällt: Der Major-Rekord des unbarmherzigen Amerikaners – Spitzname: Pistol-Pete - werde niemals mehr gebrochen, nicht in der modernen Tenniswelt mit all ihren Unwägbarkeiten und den verwirrenden Machtverhältnissen. Doch dann kam erst der schwerelose Ästhet Roger Federer, dann kam der gnadenlose Kämpfer Rafael Nadal. Dann kam auch noch das Bewegungswunder Novak Djokovic. Und als nun am Pfingstsonntag des Jahres 2022 beim zweiten Grand Slam-Spektakel dieser Saison abgerechnet war, im Stade Roland Garros zu Paris, hatten diese magischen Drei zusammen 62 der großen Pokale eingesammelt. Djokovic 20, Federer 20. Nadal, der aktuelle und gefühlt ewige Champion unterm Eiffelturm, sogar 22. Er allein, der unglaubliche Spanier, hatte jetzt 14 schwere und schwerste Major-Missionen in einer einzigen Stadt, auf einem einzigen Centre Court über die Ziellinie gebracht. „Ich hätte jeden für verrückt erklärt, der mir das einmal prophezeit hätte. Es ist der totale Wahnsinn“, sagte Nadal, der Sonnenkönig des Roten Platzes. Der absolute Herrscher, Rafa XIV.

Als jugendlicher Himmelsstürmer mit Piraten-Outfit hatte er am 5. Juni 2005 erstmals die Krone von Roland Garros erobert, als immer noch größter Fighter des Wanderzirkus, allerdings mit den Spuren einer auch zermürbenden Karriere am Körper und im Gesicht, gewann er am 5. Juni 2022 den letzten seiner 14 Titel – ohne Spannungsmomente mit 6:3, 6:3, 6:0 gegen den Norweger Casper Ruud, einen netten Statisten, der seit vielen Jahren in Nadals Trainingsakademie auf Mallorca zu Gast ist. Nadal hat sie inzwischen ja alle besiegt in Paris. Die etablierten Finalgegner wie Federer oder Djokovic. Überraschungsgäste wie den Schweden Robin Söderling, einen fast schon vergessenen Kontrahenten wie Mariano Puerta (Argentinien) beim Premierenerfolg. Und nun, in den 20er Jahren, sehr viel jüngere Gegner, für die er einst Idol und Motivationsfigur war. „Dass jemand ein Turnier jemals wieder so beherrschen wird wie Rafa die French Open, halte ich für ausgeschlossen“, sagte der Schwede Mats Wilander, selbst einmal die Nummer eins der Welt und die Nummer eins auf Sand. Immerhin vier Top Ten-Gegner ließ Nadal auf dem Weg zu diesem 14. Titel hinter sich, im Halbfinale begünstigte ihn dabei freilich auch das Verletzungsdrama von Alexander Zverev.

Der Erfolg hat seinen Preis

Nadals kräftezehrendes Spiel bei den stundenlangen Rutschpartien auf Sand, aber eben der ganze Verschleißbetrieb der stets zu langen Tennistour von Januar bis Ende November, haben allerdings ihren Preis gekostet: Über die Jahre hat sich der 36-jährige Spanier fast überall Verletzungen und Blessuren zugezogen, ob nun an der Hüfte, den Knien, den Händen oder den Rippen. Entdeckt wurde bei ihm auch eine chronische, degenerative Fußverletzung, die er mit hoher Schmerztoleranz, vielen Schmerzmitteln und, wie jetzt in Paris, mit schmerzstillenden Spritzen bekämpft. Sein Fuß sei „betäubt“ gewesen, er habe ihn „gar nicht gespürt“, erklärte Nadal am Sonntagabend. Trotzdem verkündete er, zum Aufatmen der Centre Court-Fans und seiner millionenschweren Anhängerschar rund um den Globus, er werde erst einmal „weitermachen“ und sehen, „was geht.“ In den nächsten Tagen sei eine neue Behandlungsmethode für den lädierten Fuß vorgesehen, so Nadal, einfach alles fortzusetzen wie zuletzt, „das geht aber nicht.“ Noch hat er deshalb auch Wimbledon nicht abgeschrieben, den Rasen-Klassiker, den er zuletzt 2010 gewann. Träte er an der Church Road an, dann erstmals in seiner Laufbahn als Inhaber der beiden ersten Grand Slam-Titel der Saison.

Risiken wird Nadal, der längst nicht mehr maßlos Getriebene, in der Zukunft keineswegs eingehen. Schließlich hat er schon reichlich Zwangspausen einlegen müssen, bei neun Grand Slams verletzt gefehlt und heftig gelitten - der Mann, den sein langjähriger Trainer und Onkel Toni einst als den „Weltmeister der Schmerzen“ bezeichnete und hinzufügte: „Ich glaube nicht, dass jemand mehr einstecken kann als er.“ Nadal hatte dennoch in Paris, noch vor dem letzten Titelcoup, auch den bemerkenswerten, denkwürdigen Satz gesagt, er werde auf den Pokal gerne verzichten, „wenn ich dafür einen gesunden Fuß kriegen würde.“ Auch für ihn hat die peinvolle Schufterei dann doch noch ihre Grenzen. Nur wann das alles einmal vorbei sein wird und soll, das weiß nur er selbst, der Matador Nadal.

Längst hat er in der eigenen Wahrnehmung das Soll mehr als übererfüllt. Schon zu Beginn seiner Dreißiger plagten ihn körperliche Probleme so heftig, dass er gar nicht mehr an Grand Slam-Erfolge glaubte. Dann schrieb er eine erfolgreiche Comebackgeschichte nach der anderen auf den Centre Courts der Majorturniere fest, immer wieder in Paris, aber eben auch in Melbourne oder New York. Plötzlich rückte er in die Pole Position der Grand Slam-Titelgewinner, vor Federer, vor Djokovic. Nadal, irgendwie immer eine ehrliche Haut, war allerdings auch klar abzunehmen, wenn er sagte: „Die meisten Grand Slams gewonnen zu haben, interessiert mich weniger als viele Menschen draußen.“

Nadal-Tag in Paris

Am letzten Tag der Jubiläumsfeierlichkeiten für die seit 70 Jahren herrschende Queen wirkte jedenfalls auch er, der Tennis-König von Paris, wie die Ewigkeit in Person. Seit fast zwei Jahrzehnten ist der erste Juni-Sonntag in Paris der Nadal-Tag. Der Tag, an dem er im Westen der Kapitale erst seinen Gegner im Finale zermürbt und dann freudetrunken in den Pokal beißt – das typische Motiv des „Kannibalen“, wie ihn die Gazetten in Frankreich reißerisch nennen. Nadal hat 14 Siege in 14 Finals so sehr zur Routine gemacht, dass das Unglaubliche, das Sensationelle, das Atemraubende kaum noch aufscheint hinter diesen Zahlen. Dabei wissen Nadal-Kenner auch dies: Jeder seiner Triumphe ist aus Ängsten, Zweifeln und Misstrauen geboren. Nadal ist einer, der sich immer wieder aufs Neue erst über den leidenschaftlichen Kampf, das Duell Auge in Auge die Selbstversicherung abholt, bereit zu sein für Großes. Gut genug für Triumphe und Titel. Er sei keiner, der „mit breiter Brust“ auf den Platz marschiere, sagt Nadal, „ich habe immer sehr viele Bedenken. Vielleicht war das aber genau die richtige Basis, um erfolgreich zu sein.“ 

Vielleicht ist noch etwas viel wichtiger für und mit Nadal: Denn in seinem ganzen Berufsleben ist er immer er selbst geblieben. Der Glitzer-und-Glamourbetrieb hat ihn nicht verbogen, er hat sich ihm umgekehrt auch nicht unterworfen. Nadal, der 36-jährige alte Meister, hat nie den Blick für das Große und Ganze und die Prioritäten im Leben verloren. Das größte Glück für ihn sei, daheim in Mallorca im Kreis seiner Familie zu sein, mit alten Freunden auszugehen, sich die Zeit wie eh und je beim Angeln zu vertreiben. „Es braucht keine Millionen, um zufrieden zu sein“, sagt der Millionär Nadal ohne Scheinheiligkeit. Sein Vermächtnis im Tennis besteht eben nicht nur aus Ruhm, Reichtum und Trophäen, sondern aus seinem Charakter, seiner Geradlinigkeit und seiner Normalität in einem unnormalen Universum des hochgezüchteten Profisports.

Hier das Einzel-Tableau bei den Männern

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