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French Open: Kevin Krawietz und Andreas Mies - auf einmal wieder starke Charakterköpfe

Kevin Krawietz und Andreas Mies stehen vor ihrem zweiten Triumph bei den French Open. Damit war in den vergangenen Wochen nicht unbedingt zu rechnen.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 09.10.2020, 10:55 Uhr

In Paris haben Andreas Mies und Kevin Krawietz viel Grund zum Jubeln
© Getty Images
In Paris haben Andreas Mies und Kevin Krawietz viel Grund zum Jubeln

Wenn Boris Becker nach seinem wichtigsten Sieg gefragt wird, muss er nicht lange nachdenken. Es sei nicht etwa der vielbeschworene „Tennis-Urknall“ gewesen, sein Aus-dem-Nichts-Erfolg in Wimbledon 1985 gegen Kevin Curren. Sondern der Sieg genau ein Jahr danach, gegen Ivan Lendl, den knorrigen Exil-Amerikaner: „Wenn du das erste Mal etwas Großes gewinnst, bist du dir nicht sicher“, sagt Becker, „du denkst, es ist Zufall gewesen oder Glück.“ Aber in den ersten Stunden nach dem zweiten Wimbledon-Sieg gegen Lendl, den Spitzenmann und Grand Slam-Champion, sei ihm 1986 klar geworden, so Becker, „dass ich wirklich gut bin, dass ich da vorne rein gehöre“: „Diese Bestätigung war wegweisend für meine ganze Karriere.“

Becker hat am Donnerstagabend auch zu den ersten Gratulanten des deutschen Ausnahmedoppels Kevin Krawietz/Andreas Mies gehört. „Hut ab“, rief er dem Coburger Krawietz (28) und dem Kölner Mies (30) zu, nachdem sie in einer neuerlich wundersamen French Open-Mission wieder das Finale beim Sandplatz-Grand-Slam erreicht hatten. Schon zuvor hatte er als Experte, bei der Analyse des glatten Halbfinalsiegs der deutschen Tennisbrüder gegen die Kombination WesleyKoolhof/Nikola Mektic, seine Verblüffung über den Coup geäußert: „Das ist die schwerste Übung überhaupt. So ein Ding wie aus dem Vorjahr zu bestätigen, bei der Titelverteidigung so aufzutrumpfen“, so Becker, „da habe ich einen Riesenrespekt vor.“

Arbeitsbilanz von "Kramies" zuletzt durchwachsen

Umso mehr, wenn man auf die Arbeitsbilanz von Krawietz und Mies blickte in den letzten Monaten, auf die eher durchwachsenen Ergebnisse. „Wir hatten nicht viel zu lachen, zuletzt in Hamburg, direkt vor den French Open, lief es sogar ganz schlecht“, sagt Mies, der Wortführer in der schwarz-rot-goldenen Tennisallianz. Dort, am Rothenbaum, verloren sie schon zum zweiten Mal in dieser Saison gegen Koolhof und Mektic, ehe nun der souveräne Sieg unterm Eiffelturm gegen die Rivalen folgte. „Es war einfach so. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, ganz eingehend analysiert, was da schiefgelaufen ist“, sagt Krawietz, „wir wollten nicht noch mal die alten Fehler machen.“

Paris, die zweite wundersame Abenteuerreise, ist eigentlich der erste Moment, in dem der eher zurückgenommene Krawietz und der extrovertierte Mies in dieser Saison wieder ins Rampenlicht rückten. Der letzte größere, weithin beachtete Auftritt des Duos datierte noch zurück ins Jahr 2019, zum ATP-Saisonfinale der acht besten Doppel in der Londoner O2-Arena. Um den Titel spielten die beiden Deutschen damals zwar nicht mit, aber allein das Gastspiel in diesem exklusiven Rahmen war noch einmal ein Bonus, ein Extra nach der French Open-Sensation 2019.

Wiederentdecktes Selbstbewusstsein

Krawietz und Mies waren hoch geflogen im Stadion Roland Garros, in den verrückten Mai- und Juni-Tagen des letzten Jahres. Auf einmal waren sie, die Überraschungssieger der French Open, ganz oben dabei, in dünner Höhenluft, in der Gipfelregion des Welttennis. Zunächst genossen sie die frische Aufmerksamkeit, das öffentliche Interesse, die Termine bei Presse, Funk und Fernsehen – zwei Spieler, die vor dem Grand-Slam-Märchen nur einige Tennis-Insider kannten. Mit dem plötzlichen Ruhm kamen aber auch die üblichen Nebenwirkungen: Ansprüche von außen, eigene Erwartungen. Und Gegner, die nicht mehr verblüfft werden konnten, wenn sie gegen das deutsche Pärchen anzutreten hatten. „Wir hatten schwere Wochen nach dem Titellauf. Plötzlich klappten selbst die einfachsten Dinge nicht mehr“, sagt Krawietz. Und Partner Mies ergänzt: „Diese ganzen Niederlagen wieder, die waren nicht so einfach wegzustecken. Das ging schon an die Nieren.“

Dass sie nach der ganzen Berg-und-Talfahrt, nach all den Aufs und Abs, nun wieder mittendrin in der Verlosung um einen der größten Branchentitel sind, haben sie vor allem der wiederentdeckten Unbeschwertheit und Leichtigkeit zu verdanken. Und dem Selbstbewusstsein, das sie aus dieser Haltung heraus entwickelten: „Wir sagten uns: Wir haben immer die Qualität, um vorne dabei zu sein“, sagt Mies, „die Gegner nehmen uns zwar ernster, aber wir haben auch die Mittel, uns zu wehren.“ Mies nennt das den „Brust-raus-Effekt“, lange habe man darüber mit Becker, dem Tennis-Altmeister, bei Davis-Cup-Matches gesprochen: „Er hat uns gesagt, dass wir Zuversicht und Stärke ausstrahlen müssen auf dem Platz. Du spielst so, wie du dich gibst.“

Es war bezeichnend, gegen wen Krawietz und Mies bisher in Paris gewannen. Gegen drei der Pärchen, die sie auf dem Weg ins Finale ausschalteten, hatten sie im Laufe der Saison Niederlagen eingesteckt, gegen Koolhof und Mektic sogar zwei Mal. Sie schüttelten den Frust ab, in Paris, dem Ort, der für sie eine besondere Magie ausstrahlt. Aber es war eigentlich der Zauber, der von innen kam. Und der für ihren bisherigen Erfolgslauf verantwortlich war. Der Zauber, sich noch einmal neu erfunden zu haben als starke Charaktere im roten Sand. Nur noch der Brasilianer Bruno Soares und der Kroate Mate Pavic, die Endspielgegner am Samstag , können „Kramies“ jetzt noch aufhalten – die beiden höllisch starken Himmelhunde. Die deutsche Mauer von Paris.

von Jörg Allmeroth

Freitag
09.10.2020, 16:40 Uhr
zuletzt bearbeitet: 09.10.2020, 10:55 Uhr