Stan Wawrinka – Das Phänomen der Open
Der Schweizer präsentiert sich rechtzeitig zur Titelverteidigung bei den French Open wieder in Topform.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
02.06.2016, 09:21 Uhr

AlsStan Wawrinkavor knapp zwei Wochen nach Paris anreiste, tat er es mit einem seltsamen Gefühl. Nicht etwa, weil er gerade den überraschenden Pokal-Coup daheim in Genf gelandet hatte, sondern weil er wusste, dass er bei den French Open ein vertrautes Gesicht vermissen würde. Seinen Freund, sein ehemaliges Idol, seinen Mentor. Keinen anderen alsRoger Federer.„Ein Grand-Slam-Turnier ohne Roger. Eigentlich unvorstellbar“, sagte Wawrinka, „er war doch immer da. Das schmerzt schon.“
Wawrinka fühlt sich „Lichtjahre“ von den Großen Vier entfernt
Wawrinka sagte vor den ersten Ballwechseln des Turniers auch noch etwas anderes, sehr Bemerkenswertes. Etwas, das wohl kein anderer, zweimaliger Grand-Slam-Gewinner in diesem Wanderzirkus der Ego-Könige sagen würde. Die Großen Vier, alsoNovak Djokovic,Roger Federer,Rafael NadalundAndy Murray,dieses Quartett der eisernen Siegertypen sei „Lichtjahre entfernt“ von ihm, er könne nur versuchen, „einigermaßen gut mit ihnen mitzuhalten.“ So sprach Wawrinka. Der Sieger der French Open 2015. Der Titelverteidiger.
Doch die Wahrheit ist: Er ist bei diesen verregneten Ausscheidungsspielen im Westen der französischen Kapitale wieder mal auf Augenhöhe mit den Allerbesten. Mit der Elitegruppe des Herrentennis. Wawrinka, der ewige Zweite hinter Federer, spielt in der ersten Reihe und um den Titel mit – am Freitag wird er in einem, logischerweise, wegweisenden Halbfinal-Duell auf Britanniens Andy Murray treffen. Und einer der beiden freundschaftlich verbundenen Profis wird dann am Sonntag im finalen Fall für Zwei stehen, im Endspiel-Showdown unterm Eiffelturm. „Typisch Wawrinka“, sagt der ehemalige Ranglisten-Spitzenreiter Mats Wilander (Schweden), „wenn er einen Lauf kriegt, ist er kaum noch zu stoppen. Er ist unberechenbar – und deshalb so gefährlich“.
In Genf den Schalter umgelegt
Tatsächlich: Wawrinka, die Nummer vier der Weltrangliste, ist das Phänomen der Open. Ein ganz spezieller Fall in der Nomadentruppe der Berufsspieler. Denn kaum ein anderer Topmann im Welttennis konzentriert seine Stärken so sehr auf die herausragenden Turniere wie dieser Wawrinka. Über Wochen und Monate kann der 30-Jährige fast völlig von der Bildfläche und aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden, ehe er sich bei einem Grand Slam zu ganzer Stärke aufschwingt. „Stan ist kein Weltmeister der Konstanz“, sagt Ex-Superstar John McEnroe, „aber wenn er in Stimmung ist, das nötige Selbstbewusstsein mitbringt, dann ist er ganz, ganz oben einzustufen.“ Vielleicht sogar dann in einem Atemzug mit Djokovic zu nennen, dem Dominator der Szene.
Auch in diesem Jahr hätte man Wawrinka nicht zwingend auf der Rechnung für Roland Garros haben müssen. Er rückte ins Achtelfinale der Australian Open vor, gewann Ende Februar dann das Millionenturnier in Dubai, schwächelte aber anschließend in den Frühlingswochen in Nordamerika. Auf den Sandplätzen in Europa wurde nichts besser für ihn, teils schied er kläglich früh bei seinen Arbeitseinsätzen aus. Doch was passierte? In Genf, in vertrauter Atmosphäre, legte der Kraftmeier direkt vor dem Grand-Slam-Fest in Paris einfach den Schalter um, gewann das Turnier und hat inzwischen neun Siege in Serie auf Sand gelandet. Das gab Wawrinka ein „richtig gutes Gefühl“ für die French Open mit, aber eben auch die Tatsache, sich in Paris schon einmal gegen alle Widrigkeiten und Gegnerschaft bis zur Krönung durchgesetzt zu haben – einer wie er braucht dieses Wissen, diese Selbstvergewisserung, diese Selbstbestätigung wie die Luft zum Atmen. „Meine Mentalität war vom ersten Ballwechsel an gut“, sagt Wawrinka. Der Mann, der womöglich wieder zum Spielverderber für alle anderen Stars in Paris werden könnte.